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Post von Brüderle – Das Versprechen goldener Zeiten?

von Dirk Jürgensen ...

In meinem Briefkasten fand ich kürzlich neben anderer Post einen Umschlag, der nicht an mich persönlich, sondern „an die Bürgerinnen und Bürger des Hauses“ gerichtet war. Als Absender prangte auf dem Umschlag ein Bundesadler mit dem Namen Rainer Büderle, dessen Funktion als Mitglied des Deutschen Bundestages und Amtsadresse in Berlin darunter. Frankiert war das Schreiben als „POSTWURFSPEZIAL“ einem Service der Deutschen Post. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bezüglich des Umgangs mit unaufgefordert eingetroffener Werbepost warf ich den Brief nicht in den eigens dafür unter den Briefkästen aufgestellten Papierkorb, sondern nahm ihn mit und legte ihn mit all der anderen Post auf den Küchentisch.

Ich machte mir eine Kaffee, öffnete den Umschlag und fand neben einem Anschreiben eine Antwortkarte, mit der ich von der FDP-Bundestagsfraktion Informationsmaterial anfordern konnte oder gar sollte. Ja, war mein erster Gedanke, der Wahlkampf läuft ein ganzes Jahr vor der Bundestagswahl zumindest bei der FDP schon auf Hochtouren und diese Partei scheint sich aufgrund mieser Umfragewerte ganz sicher nicht davor zu scheuen, Steuergelder für ihren Kampf zu missbrauchen. Noch kann sie es, schließlich ist sie Teil der Regierung. Warum bin ich eigentlich immer so skeptisch?

Ich widmete mich wichtigerer Post und nun, ein paar Tage später, schaue ich mir die Sache intensiver an.

Eine Seite der Antwortkarte zieren zwei kleine blonde Kinder hinter einer weißen Tischkante, die sie gerade mit ihren Nasen erreichen können. Zwischen ihnen schaut uns ein Sparschwein an. Darüber steht der blaugelb gestaltete und etwas holprige Satz „Freiheit bewegt SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT“. Gerade frage ich mich noch, wessen Freiheit das so gerne und populär verschönernd missverstandene politische Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft besonders gut bewegt, lese ich, dass unter dem Sparschwein „stabiles Geld für die Zukunft unserer Kinder“ gefordert wird. Dieser Appell wird von einem künstlich verschmierten, wohl individuelle Bearbeitung vortäuschenden Stempelaufdruck unterstützt. Ein blaues Herz wird darin von der Aussage „FDP-Fraktion. Wir lieben die Soziale Marktwirtschaft“ umkränzt.

Tja, denke ich, wo die Liebe halt hinfällt…

Die andere Seite der Karte soll ich ausfüllen und per Fax oder Post an die FDP-Bundestagsfraktion zurücksenden. „Dialog Partner“ soll ich über die Anforderung von Informationen werden. Einen Dialogpartner hätte ich mir noch vorstellen können. Aber egal, hier haben wohl bloß wieder Grafiker vom Auftraggeber eine zu große Sprachfreiheit erhalten. Der heute unvermeidliche QR-Code darf auch nicht fehlen. Er weist sicher nur auf eine Reklameseite der FDP und interessiert mich nicht. Auch nicht der Hinweis, dass man meine Daten nicht an Dritte weitergeben will. Das Porto zahlt der Empfänger, oder, wie zu vermuten ist, doch wieder ich als Steuerzahler.

Nun zum eigentlichen Schreiben. Zuerst bedankt sich Herr Brüderle bei mir, weil Deutschland aufgrund „vor allem“ meiner Arbeit wirtschaftlich besser als viele andere Länder dasteht. Ja, möchte ich ihm zustimmen, an der Arbeit der derzeitigen Regierung kann es nicht liegen.

Der zweite Absatz überrascht mich und sicher auch viele Opelaner, Nokia-Subventinonsopfer und ehmalige Schleckermitarbeiterinnen mit der Aussage, dass es in Deutschland keinen Raubtierkapitalismus gäbe, sondern eine Soziale Marktwirtschaft, die „wir“, damit ist wohl die FDP-Fraktion gemeint, „aktiv gestalten“. Mir wäre seitens der FDP, deren Ansatz zur Sozialen Marktwirtschaft auch mit dem des Neoliberalismus gleichzusetzen ist, gerne etwas mehr Passivität beim Gestalten lieber gewesen. Die immer so gern von ihr geforderte Freiheit der Marktteilnehmer schließt immer auch die Raubtiere ein.

Nun folgen vier Schlagworte, die verdeutlichen sollen, wofür die FDP im Bundestag steht und ich möchte, sollte Herr Brüderle mein Schreiben lesen, entgegensetzen, wofür ich stehe.

„Wir stehen für Wachstum.“

Bürgerinnen und Bürger wurden anhand des Wachstumsbeschleunigungsgesetz um 24 Mrd. Euro entlastet, um eben das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. – Herr Brüderle, ich kenne zwar niemanden persönlich, der diese Entlastung gespürt hat, aber selbst wenn das angesprochene Gesetz tatsächlich gegriffen haben sollte, so geht es doch vollkommen am eigentlichen Problem vorbei. Unendliches Wachstum ist in einem Wirtschaftskreislauf gar nicht möglich, es handelt sich um eine Illusion. Laufen Sie los, Herr Brüderle, sie kommen bei einem Kreislauf immer wieder zum Startpunkt zurück. Wenn man bei einem Wachstum kein Ziel vereinbart, handelt es sich als Denkmodell um eine unendliche Spirale und die ist schon aufgrund begrenzter Ressourcen langfristig kaum erklärbar.

„Wir stehen für neue Arbeitsplätze und Rekordbeschäftigung“

Wenn es so wäre, dass es der FDP um die Herausbildung sozial dienlicher, qualitativ statt quantitativ ausgerichteter Arbeitsplätze ginge, die jenseits des Wachstumsstrebens alter Manier anzusiedeln sind, wenn es Ihnen um den Ausbau regenerativer Energieerzeugung, einer Dezentralisierung der Energienetze, wenn es um einen echten fortschrittlichen Wandel ginge, könnte ich an dieser Stelle unterschreiben. Brüderle verweist stattdessen auf „die höchste Beschäftigung seit zwanzig Jahren“, darauf, dass die „Reallöhne seit 2010 stetig gestiegen“ seien und es verbesserte Aufstiegschancen durch „gezielte Weiterbildung“ gäbe. Beinhaltet die Zahl der Beschäftigten auch die, die unbedingt einer Mindestlohnregelung bedürfen? Täuscht mein Eindruck, dass nur jene Branchen einigermaßen kräftige Lohnzuwächse zu verzeichnen haben, in denen die Arbeitnehmer ihre Forderungen per Streik durchsetzten? In meinem Umfeld ist wohl kaum jemand zu finden, der angesichts der Preissteigerungen der letzten Jahre einen realen Lohnzuwachs oder den zunehmenden Eingang von Weiterbildungsangeboten zu verzeichnen hat. Die Volkshochschulen streichen aufgrund von Geldmangel allgemein ihr Angebot zusammen.

„Wir stehen für Verantwortung.“

Verantwortung ist immer gut und wenn es darum geht, die Vergemeinschaftung von Schulden aus dieser Verantwortung heraus zu verhindern, kann ich nur zustimmen. Doch leider sind die Schulden der Staaten und die der kriselnden Banken längst vergesellschaftet. Gewinne wurden hingegen aufgrund immer geringer ausfallender Besteuerung immer weniger vergesellschaftet und ich fürchte, mit der FDP wird kein Eingrenzen des unkontrollierten Finanzverkehrs und keine erhebliche Besteuerung von Kapitalerträgen möglich sein. Wenn Banken aufgrund ihrer Systemimmanenz gerettet werden, dann ist zu fragen, ob es richtig ist, dass Banken überhaupt systemimmanent werden können. Die angeführte Diskussion um Eurobonds umgeht einmal mehr das eigentliche Problem einer übertriebenen Freiheit des Geldes und dessen Spekulanten, die letzthin der Freiheit der Menschen zuwider läuft. Wenn die einzige Verantwortung der FDP in der Verhinderung der Eurobonds hinausläuft, ist es verdammt traurig um diese Partei bestellt.

„Wir stehen für die Stabilität des Geldes.“

Dieser letzte Standpunkt wird prägnant mit der Aussage „Geldwert ist stille Sozialpolitik“ untermauert. Allerdings ist auch Umverteilung stille Sozialpolitik. Im Positiven, wie im Negativen – je  nach der Richtung der jeweiligen Umverteilung. Da wir in den letzten Jahren eine immer weiter auseinanderstrebend Wohlstandsschere beobachten mussten, kann man die bisher erfolgte „stille Sozialpolitik“ nur als gescheitert erklären oder verurteilen. Je nach dem, was als Ziel der Politik gesetzt war. Der als Rettungsschirm bekannte Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist als Versuch zur Rettung einer europäischen Gemeinschaftsidee lobenswert, doch letzthin wieder nur zur Rettung einer neoliberalen Ideologie und ihrer staatstragenden Vertreter geeignet. Einem Fortschritt steht sie wohl eher im Wege, wenngleich ich nicht die pauschale Europakritik ihrer Gegner unterstützen mag.

Auf der zweiten Seite des Schreibens versichert Rainer Brüderle, dass „wir wissen, was Inflation bedeutet. … Inflation vernichtet Werte. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben. Etwa bei hohen Energiepreisen.“ Es folgt eine Erklärung zum von Rot-Grün einst erlassenen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das zu einer Verteuerung des Stroms geführt habe und eine mit gewissem Stolz vorgetragene Verkündung, „die FDP-Fraktion [habe] daher eine erste Reduzierung der Überförderung beim EEG erreicht. [Sie wolle] die übermäßige Subventionierung weiter absenken und damit den Anstieg der Stromkosten beschränken.“ Die Sache mit den Subventionen musste wohl erwähnt werden, schließlich leidet die FDP sehr unter ihrem Ruf einer klientelgesteuerten Subventionsneigung. Ich vermute, die vom EEG profitierenden Firmen haben mindestens eine Partei beim Spenden übersehen. Wie gesagt, eine Vermutung.

Brüderle verliert kein Wort zur teuren aber notwendigen Modernisierung des Stromnetzes, zur Endlichkeit und somit unvermeidlichen Verteuerung der Ressourcen, zur ganz sicher noch anstehenden Vergesellschaftung der Folgekosten der unverantwortlichen Atomenergie, die sicher kein Stromkonzern über Jahrtausende tragen will oder gar kann. Den trotz Abschaltung zahlreicher Atomkraftwerke zunehmende Stromexport in die Nachbarländer, der ganz sich ganz sicher nicht preismindernd auswirkt, hat Herr Brüderle nicht bemerkt. Es folgt auch kein Hinweis zu den stetig fließenden Gewinnen dieser Stromkonzerne, zu den Vergünstigungen die zahlreiche Unternehmen erhalten, während private Kunden aufgrund einer wenig sozialen Tarifstruktur für ihren geringen Verbrauch bestraft werden. Hier regelnd einzugreifen widerspricht vermutlich dem marktorientierten Freiheitsdenken der aktuellen FDP.

Könnte man sich nicht auch die Frage stellen, wozu eigentlich Stromkonzerne existieren, wo es doch um eine Grundversorgung der Bevölkerung geht, mit der man aus moralischen Gründen schon keine über den Investitionsbedarf liegende Gewinne machen sollte? Das wäre mal eine FDP, die mir gefallen könnte. Wenn sich diese Partei Ziele dieser Art setzte, könnte ich fast zum Liberalen werden und diesen Teil des Schreibens unterzeichnen:

„Probleme müssen angepackt und dürfen nicht verschleppt werden. Das gilt für ganz Europa. Es geht um die richtigen Entscheidungen.“

Bislang bleibt die FDP für mich unwählbar. Auch das hat mich der Brief Rainer Brüderles gelehrt. Manchmal ist die Verschwendung von Staatsfinanzen also sogar positiv zu bewerten.




Keine Besserung in Sicht – Der Kapitalismus, ein System der Unbelehrbarkeit

von Dirk Jürgensen ...

Die Intervalle zerplatzender Ökonomie-Blasen scheinen immer kürzer zu werden. Vor wenigen Jahren war es die der sogenannten New Economy und, kaum davon erholt, spüren wir die Wirkungen einer weltweiten Finanzkrise, die mit einer Krise des amerikanischen Immobilienmarktes begann. Heute erleben ganze Nationalstaaten das, was wir bislang nur von erfolgslosen Unternehmen kannten. Immer ging und geht es darum, dass Menschen über ihre Verhältnisse leben, Verbraucher von findigen und windigen Verkäufern übervorteilt werden, Börsenmakler und Manager mit Geldern jonglieren, die gar nicht vorhanden sind, zumindest nicht ihnen gehören. Hinzu kommen weltpolisch bedeutend gewordene Bewertungen von Rating-Agenturen, kommerziellen Unternehmen also, in denen Menschen arbeiten, die jenen Verursachern der Geldverbrennung wie eineiige Zwillinge gleichen. Auch das Rating ist nur Teil eines Systems ständiger Preisfindung.

Wie konnte es nur dazu kommen, dass Regierungen, ob sie demokratisch gewählt oder gewaltsam eingesetzt wurden, ist dabei unerheblich, ihre Souveränität am Bankschalter aufgaben? Den Begriff der Politik könnte man neuerdings als „Reaktion auf die Vorgaben des Finanzmarktes“ übersetzen. Regierungen gehören kaum noch als solche bezeichnet, denn statt den Märkten klare Regeln zu setzen und deren Einhaltung zu erzwingen, lassen sie sich von ihnen gängeln.

Handel und Wandel haben sich getrennt, der Handel ist zum Selbstzweck geworden, der dingliche Wert zur reinen Fiktion. Gewinne stellen sich aufgrund bloßer Erwartungen ein, Verluste ebenso. Was gemeinhin als Realität wahrgenommen wird, ist das Glück unserer Leitbilder und das Leid Unbeteiligter. Verantwortliche scheint es gar nicht zu geben, denn das, was als Kraft des Marktes verehrt das Leben der Menschheit bestimmt, findet auf einer technischen Ebene statt, in der sich ein Einzelner sicher vor Rechenschaft verbergen kann. Er macht als Teil eines Getriebes mit, das vielen Getriebenen wie gottgegeben erscheint, oder er verweigert sich der allgegenwärtigen Realität. Vollständig heraushalten kann sich jedoch niemand. Welche Seite definiert eigentlich den Realitätsverlust?

Finanzkrise

Alles nur ein Spiel?

Solange wir dieses herrschende Wirtschaftssystem nicht endlich als Psychose verstehen, bleibt es ein Spiel. Ob es ein lustiges oder ein böses ist, bestimmen der Würfel, die Höhe des Einsatzes, Gewinn oder Verlust. In alle Richtungen darf spekuliert werden, doch stets überwiegen die Verlierer. Aktienkurse steigen, wenn Unternehmen ihre personelle Substanz in die Arbeitslosigkeit entlassen, man weist Luftbuchungen als Vermögen aus und kassiert viel zu hohe Gehälter und Prämien, die aus Buchgewinnen bezahlt und mit tatsächlich oder vermutlich steigenden Aktienkursen begründet werden. Sollten die Protagonisten das Unternehmen und alle davon Abhängigen soeben in den Ruin geführt haben, ist ihnen aus purem Hohn sogar noch eine Abfindung gewiss. Sollte in all diesen Vorgängen der Rest einer gewissen Vernunft enthalten sein, verkaufen Computer, denen Vernunft und Emotion fremd ist, Werte, weil sie andernorts Verkäufe registrieren. Der Mensch hat sie so programmiert, um sich vor seiner eigenen Menschlichkeit bis in den eigenen Ruin hinein zu schützen.

Gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen kennen wir nur noch als Flimmern eines Oszilloskops. Der Lebensrhythmus reduziert sich auf die Konjunktur. Phasen des Booms, des wirtschaftlichen Aufschwungs bis zur Hochkonjunktur folgen auf jeden Krieg, auf jede Krise und fast jeden Zusammenbruch. Jede Phase hinterlässt Opfer und Profiteure. Deren jeweilige Zahl schwankt beträchtlich, doch da als Wohlstand im allgemeinen Verständnis nur der statistische Durchschnitt zählt, ist es einerlei, wie weit sich die Reichsten und die Ärmsten von der Mitte entfernen. Dieser Satz gilt sogar, wenn die Mitte menschenleer geworden ist. Der Durchschnitt ist nur Berechnung.

Ewiges Wachstum, so heißt der Mythos der Kapitalismusjünger. Wenigstens ein Wachstum während der eigenen Lebenszeit soll es sein, besser noch während der Lebenszeit der eigenen Kinder. Es ist ein Mythos oder auch der zutiefst menschliche Traum vom ewigen Leben, den der Kapitalismus zu seiner Rechtfertigung benötigt. Dabei kann es ihn ohne den Zusammenbruch und Zerfall gar nicht geben, wie auch jeder vermeintlich ewig wachsende Baum irgendwann stürzt. Erst von ganz unten lässt es sich wieder so richtig wachsen. Da verhält sich die Ökonomie also ganz natürlich.

In aufstrebenden Wirtschaftssystemen – inzwischen können wir diese als ein einziges globales System betrachten – bilden sich stets Gruppen neureicher Cliquen, selbsternannter Eliten, die in relativ rechtsfreien Räumen agieren. Reichtum ersetzt oder macht Politik, Armut kann nur zuschauen. Es erscheinen Grüppchen einzelner, besonders auffälliger Emporkömmlinge – kurz: die „High Society“ –, die allgemeine Bewunderung ernten und, gesellschaftlich kaum widersprochen, Träume von Chancengleichheit vermitteln. Sollten sich die Träume als unerfüllbar erweisen, werden Beschwerden darüber als Neiddebatte verunglimpft – auch das geschieht im gesellschaftlichem Konsens. In der Luft dieser „besseren Gesellschaft“ hingegen liegt spätestens beim Überschreiten ihres ökonomisch-sozialen Zenits immer ein Geruch von Dekadenz. Doch solange der unausweichliche Zerfall nicht für alle Menschen sichtbar zutage tritt, wird sich kein Bewunderer ewiger Wachstumsphantasien, erst recht kein Glücksritter davon abhalten lassen, dem trügerischen Gold eines vermeintlich goldenen Zeitalters nachzulaufen – er wird auf sein zukünftiges Dazugehören in Reichtum spekulieren. Solange monetäre Utopien soziale Utopien verdrängen, ist keine Besserung in Sicht.

Nichts ist in all dem bisher Beschriebenen neu. Die Zeit der 1870er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg in den USA bezeichnet man noch heute als „Gilded Age“, als „Vergoldetes Zeitalter“. Es sind nach dem von 1861 bis 1865 wütenden Bürgerkrieg die Gründerjahre, die einen unvergleichlichen wirtschaftlichen Aufschwung brachten. Glücksritter, Spekulanten, Spieler und unzählige Verlierer prägen diese Epoche – und bis heute den Geist amerikanischen Freiheitsdenkens. Die Namen der Ölbarone, Eisenbahntycoons, Stahlmagnaten, Bankiers, der Astors, Carnegies, Rockefellers und Vanderbilts kennen wir noch heute. Wir wissen auch, doch verdrängen wir es wiederum auch gerne, von der großen Armut der Bevölkerungsmehrheit aufgrund rücksichtsloser Profitsucht und von der grenzenlosen Korruption, mit der die Ökonomie die Politik vereinnahmte – es sind die Gründe dafür, das Zeitalter nicht als „Goldenes Zeitalter“ bezeichnen zu können und den Begriff der Freiheit zu relativieren.

Wer ein Gespür für die damalige Wirklichkeit erlangen möchte, die nicht weit von der heutigen entfernt ist, kann dies mit einem seit einiger Zeit wieder in deutscher Sprache verfügbaren versuchen:

Die befreundeten Nachbarn Charles Dudley Warner und Samuel Longhorne Clemens, ihn kennen wir besser als Mark Twain, machten sich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung in ihrem Land über die realitätsferne Literatur ihrer Frauen lustig. Von diesen daraufhin herausgefordert schrieben sie gemeinsam den Roman „Das vergoldete Zeitalter: Eine Geschichte von heute“, einen satirisch-gesellschaftskritischen Roman, der 1873 erschien und einer ganzen Ära den Namen geben sollte. Man mag über die literarische Qualität des Werks streiten, übrig bleibt jedoch immer die rücksichtslose und immer wieder überraschend aktuelle Beschreibung einer Gesellschaft, in der jedes Mitglied eine Chance zur Verwirklichung seiner Träume erhält – wenn es genügend Rücksichtslosigkeit und Anpassung an ein korruptes System aufbringt. Und wer die Diskussion um die Schuldenobergrenze in der Legislative der USA verfolgt hat, wird eine Menge Parallelen entdecken.

Der im Roman beschriebene Kapitalismus steckt in seinen Kinderschuhen. Gerade deshalb macht er dessen Mechanismen für uns so gut verständlich:

Versprechen werden gegeben, doch niemals eingehalten. Träume haben ihren Nutzen, sie sind Motivation zur Spekulation. Lobbyismus ersetzt Demokratie und der Preis regelt die Rechtmäßigkeit. Wertschöpfung zeigt sich nur auf einem Konto, ist im Konkreten nicht relevant. Gerechtigkeit ist, wenn es mir und meiner Familie gut geht. Es kann gefährlich werden, sich im Sinne des Systems zu verkaufen.

Vielleicht müssen diese Dinge trivial verarbeitet werden, weil eine intellektuelle Herangehensweise mehr verschleiert als offenbart?

Ferner sollten wir die Stärke der Goldauflage anzweifeln, wenn die Tagesschau uns demnächst einmal mehr von einem kräftigen Aufschwung berichtet, von dessen Kuchen wir aus unerfindlichem Grunde kein Stück abbekommen. Dass wir dennoch den Traumangeboten der ökonomischen Welt erliegen, ist wahrscheinlich, denn alternative Utopien sind rar und viel zu wenig präsent. Auch Mark Twain, der die Mechanismen so drastisch zu entlarven wusste, ging nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung des „Vergoldeten Zeitalters“ als Spekulant in die Pleite. Ausgerechnet der Vizepräsident von Standard Oil, Henry Huttleston Rogers, half ihm wieder auf die Beine zu kommen und seine Vorträge zur Schuldentilgung global zu vermarkten.

Auch in dieser edlen Tat zeigt sich die einzigartigen Fähigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung: Sie rettet sich immer wieder im Kleinen und festigt im Großen ihre Unbelehrbarkeit. Sie schenkt uns den Irrglauben in die Zukunft schauen zu können, verspricht ewiges Wachstum und verschweigt den Zerfall.




Das vergoldete Zeitalter bleibt aktuell

von Dirk Jürgensen …Mark Twain hätte am 30.11.2014 seinen 179. Geburtstag feiern können. Doch der Halleysche Komet, der bereits zu seiner Geburt erschienen war, holte ihn pünktlich bei seinem nächsten Erscheinen zurück. Mark Twain hatte das längst geahnt. Ob er auch ahnte, wie wenig sich die menschliche Gesellschaft bis in unsere Tage ändern sollte? »Das vergoldete Zeitalter« hätte er heute jedenfalls gut und gerne noch einmal schreiben können. Welche Wirkung hätte das wohl haben können? Man kann nur spekulieren

Nach nunmehr 134 Jahren zahllos zerplatzter und vor all den in der Zukunft noch zerplatzenden Spekulationsblasen liegt nun endlich wieder eine deutschsprachige
Ausgabe von »The Gilded Age – A Tale of Today« vor. Als Grundlage dieser Neuausgabe diente die von Moritz Busch übersetzte und bereits 1876 in der Reihe »Amerikanische Humoristen« bei Fr. Wilh. Grunow in Leipzig erschienene Fassung. Diese wurde vom Herausgeber sanft modernisiert und an erforderlichen Stellen korrigiert. Er spekuliert mit der Veröffentlichung, das darf a dieser Stelle verraten werden, übrigens auf »Ozeane und Ozeane von Geld«

Das Werk ist über Amazon und anderswo zu bestellen. Oder fragen Sie einfach im örtlichen Buchhandel nach der ISBN 978-3-83918-446-2.

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