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Katharina Adler – Iglhaut

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Katharina Adler – Iglhaut

Katharina Adlers Iglhaut wohnt zur Miete und arbeitet selbstständig als eigenwillige Schreinerin. Sie trinkt gerne Cocktails mit Whiskey und muss unbedingt zum Zahnarzt. Aber das Geld ist verdammt knapp. Ihre Nachbarschaft ist so skurril wie die von ihr restaurierten Heiligenfiguren. In Beziehungsfragen wird‘s, als sie dann so richtig Zahnschmerzen bekommt, noch turbulenter als bisher. Aus den Angelegenheiten ihrer NachbarInnen kann sie sich nur sehr schwer heraushalten, zumal die dünnen Wände und Decken das auch gar nicht erlauben und sie in ihrer Werkstatt im Hinterhof schnell Ansprechpartnerin für alle wird. Beständigkeit ist nicht gerade ihre Natur und ihre Laune nicht immer die beste. Sie ist eine raue Natur und sehnt sich nach ein bisschen Ruhe. Doch die gibt es nicht mal im Urlaub.

Netter, kleiner Roman. Macht Spaß.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Charles Dickens – Great Expectations

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Charles Dickens – Great Expectations

Die schöne Ausgabe von „Great Expectations“ habe ich vor einigen Jahren in Utrecht gekauft. Detailreich und mit Brillanz führt Dickens den Leser in die dampfenden, lauten und schmutzigen Straßen Londons, in neblige Moorlandschaften, neben Amboss und Schenkentisch und lässt das Schicksal vom Sohn des Hufschmieds, der zum Edelmann wird und schließlich Läuterung erfährt, leuchten.

Die Moral, der diese Läuterung zugrunde liegt, tritt etwas allzu deutlich zum Vorschein und wirkt aus heutiger Sicht verstaubt. Aber schön war’s doch.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Isabelle Lehn – Frühlings Erwachen

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Isabelle Lehns „Frühlings Erwachen“ erzählt über eine fiktive Isabelle Lehn. Eine, die an Depressionen leidet und wie sie Schriftstellerin ist.

Isabelle Lehn – Frühlings Erwachen

Die Sollbruchstelle zwischen Realität und Fiktion ist so spannend, wie die zwischen dem Empfinden mit Depression und ohne. Denn auch bei der Depression spielt die Vorstellung eine nicht unerhebliche Rolle. Was ist wahr, was ist es nicht – eine Antwort darauf gibt es nicht. Denn in der Depression ist auch die Vorstellung wahr und quälend. Und ist Wahrheit nicht grundsätzlich subjektiv? Im Höchstfall eine Konsensfrage, um miteinander auskommen zu können?

Isabelle Lehns Protagonistin ist Ende dreißig, lebt mit ihrem Freund Vadim zusammen und hat eine Scheidung hinter sich gebracht. Ob sie wirklich gerne Mutter sein möchte oder ob das der Wunsch ihres Partners ist, bleibt unklar. Die Versuche es zu werden jedoch, misslingen. Das Scheitern ist auch sonst Thema. Keinen Preis für ihr literarisches Schaffen zu erhalten, nicht aus dem Bett zu kommen, die Beziehung aufs Spiel zu setzen, eine gescheiterte Ehe hinter sich zu haben, Erwartungen nicht zu erfüllen.

All das ist wie ein roter Faden, der sich durch ihre Gedankenwelt zieht. Am Ende dann doch so etwas wie Hoffnung. In jedem Fall eine Entscheidung fürs Leben. Sprachlich äußerst elegant geschrieben, hat mich das Buch von der ersten Seite an gepackt. Unbedingte Empfehlung.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Claire Fuller – Unsettled Ground

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Claire Fuller – Unsettled Ground

Claire Fullers „Unsettled ground“ ist ein Unterhaltungsroman, der Spaß macht.

Erzählt wird die Geschichte zweier Geschwister, die nach dem Tod ihrer Mutter unter deren Entscheidungen zu leiden haben und versuchen, auf den eigenen Pfad zurückzufinden. Die Menschen um sie herum meinen es nicht gut mit ihnen. Die empfundene Schuld und die Eifersucht der Eigner ihres Hauses ist so groß, dass sie sie ihrer Heimat und ihres Obdachs berauben und sie dazu zwingen, sich durchzuschlagen. Die Geschwister machen ihren Weg. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen und der Schaden reicht bis in die Zukunft.

Macht Lust auf mehr von dieser Autorin!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Benjamin Maack – Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Benjamin Maack – Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein

Das war keine leichte Lektüre. Benjamin Maacks Buch „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ hat mich ziemlich getriggert. Da kam Altes aus Klinikzeiten hoch und ich musste zwischendrin pausieren. Und doch hat es mich gleichzeitig nicht losgelassen, dieses Tagebuch einer Depression. Es hat mir wieder vor Augen geführt, wie fragil jede vermeintliche Sicherheit ist und wie groß dennoch das Bedürfnis, beschützt zu sein und vertrauen zu dürfen. Wie groß die Sehnsucht auf wackligem Boden. Wie nah manchmal der Abgrund. Und dass es Menschen gibt, die diese Pein mit aushalten, die einen begleiten und stützen. Trotzdem. Dafür bin ich immer noch sehr dankbar. Ohne sie wäre alles nichts.

Benjamin Maack berichtet von seinem Leben mit der Depression, hinter Klinikmauern und zwischendrin. Er feiert seinen 40. Geburtstag in der Psychiatrie und nicht zuhause, berichtet von Überforderung und Panikattacken, Schlaflosigkeit und Zwangsgedanken. Er lässt auch die Dunkelheit, die Selbstmordfantasien nicht aus und den dünnen Grat, der zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her führt. Ein ständiger Balance-Akt, der sein Umfeld und ihn selbst ständig höchsten Belastungen aussetzt. Ein schonungslos ehrliches Buch.

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Alina Bronsky – Baba Dunjas letzte Liebe

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Alina Bronsky – Baba Dunjas letzte Liebe

Was für ein wundervolles, kleines Buch ist „Baba Dunjas letzte Liebe“ von Alina Bronsky. Ein Buch über das Überleben unter widrigen Umständen.

Baba Dunja ist eine von wenigen, die es nach Tschernowo zurückgezogen hat, trotz der Verstrahlung, die die Bewohner und dieser Ort nach einer Reaktorkatastrophe erfahren haben. Sie leben ein einfaches Leben, mit kleinen Katastrophen und Freuden. Schrullige, altersschwache Charaktere trotzen dem Dorf alles ab, was geht, bis ein Vater in Begleitung eines kleinen Mädchens anreist. Dann überschlagen sich die Ereignisse, bis es zu einem wirklich schönen Ende kommt.

Lesenswert! Ein Buch, das in diese Zeit passt. Ein Buch voller Hoffnung. Schön!

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Ute Mank – Wildtriebe

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Dieses Buch hat mich nach anfänglichen Schwierigkeiten dann doch noch gekriegt.

Ute Mank – Wildtriebe

Ute Manks „Wildtriebe“ erzählt die Geschichte dreier Frauen und die eines Hofes. Das Verhältnis von Mutter und Schwiegertochter und schließlich Enkeltochter hat seine Tücken. Lisbeth, die Großbäuerin, hat nur den Hof im Blick. Er ist der Mittelpunkt ihres Lebens und bestimmt all ihr Handeln. Nie hat sie ihre Rolle im dörflichen Gefüge hinterfragt. Als ihr Sohn Marlies mit auf den Hof bringt, zeichnet sich Veränderung ab. Denn sie will ihre Wünsche nicht völlig aufgeben, macht einen Jagd- und einen Traktorführererschein und sieht auch Mutterschaft anders als die Bäuerin.

Es geht um das Leben in sehr typischen Landstrukturen auf dem Dorf, um Heimat finden, um Muttersein und darum, die richtigen oder falschen Entscheidungen zu treffen. Es geht auch darum, dass einem das Leben eben passiert und viele unvorhergesehene Wendungen bereithält. Es geht um Liebe und um Kämpfe. In der Enkelin schließlich scheinen sich beide Lebensmodelle der Frauen zu vereinen und zu etwas völlig Neuem zu werden.

Mochte ich.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Stewart O‘Nan – Das Glück der Anderen

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Stewart O‘Nan – Das Glück der Anderen

Stewart O‘Nans Bücher behandeln meist durchschnittliche Menschen, die gegen ihr Schicksal ankämpfen müssen und oftmals scheitern. Sehr oft geht es dabei um Tod und Verlust, um Vergeblichkeit und den Umgang damit. Seine Charaktere sind stets sehr plastisch und dicht geschildert und man leidet im wahrsten Sinne des Wortes mit.

In „Das Glück der Anderen“ kümmert sich Jacob als Sheriff, Prediger und Totengräber um sein Dorf. Dann wird das Dorf von einer Diphterie-Welle heimgesucht. Immer mehr Bewohner sterben. Ist Jacob der Auslöser? Kann er sein Dorf retten, als es auch noch von Feuer eingeschlossen wird?

Man spürt die zunehmende Einsamkeit und möchte dem Protagonisten oftmals zurufen, er möge aufgeben, dass alles keinen Sinn mehr habe, er sich verrenne in seiner Überzeugung, alle retten zu können. Ein Bravour-Stück zu Verantwortung, Scheitern, Lebensentscheidungen und Vertrauen ist er, der Roman „Das Glück der anderen“ von Stewart O’Nan. Empfehlung.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Uwe Wittstock – Februar 33 – Der Winter der Literatur

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Uwe Wittstock – Februar 33 – Der Winter der Literatur

Wie schnell es ging, dass KünstlerInnen ausgeschlossen, diffamiert, verfolgt und verhaftet wurden…. wie viele ins Ausland fliehen mussten…. wie rigoros und gewalttätig die Faschisten alles ausradierten, was nur ein, zwei Wochen vorher noch existierte. In Theatern schrieben sie mit, in Kinos warfen sie Stinkbomben. Sie kannten keinerlei Skrupel und waren auf diese Haltung auch noch stolz. Es ist nicht das Schlimmste, was in der Zeit des Nationalsozialismus verbrochen wurde, aber es hatte Methode, war Gleichmacherei mit dem Ziel der absoluten Kontrolle, bis ins Denken und Fühlen hinein. Krawall und Aufwiegelei, sich die Schwäche von anderen zu Nutze machen, manipulieren und zuschlagen, auch mit den Fäusten. Es gab schon in diesen Tagen viele Opfer, deren Zahl am Ende unzählbar wurde.

Uwe Wittstock erzählt in Februar 33 vom Sterben einer Kultur unter der Herrschaft des Faschismus. Eine Chronik, die nüchtern und sachlich bleibt und dennoch den Schrecken und die Not einfängt.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Simone Scharbert – Rosa in Grau

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich bin Malerin und habe Sprachen, nicht Kunst studiert. Der intellektuelle Background, die akademische und auch technische Ausbildung fehlen mir persönlich nicht. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum das Malen dadurch weitgehend ein Schöpfen aus dem Unterbewussten ist, trotz aller Übung, trotz Wachsen der Fertigkeit, Beherrschen der Technik, trotz der Betrachtung fremder Kunstwerke, trotz aller darauf folgender Nachahmung. Ich beginne meist mit einer Bleistiftzeichnung und nehme anschließend den Pinsel in die Hand. Das Bild verändert sich, ich folge dem Zufall, dem Zerfließen der Farbe, der intuitiv entstehenden Form. Der Charakter eines Portraits verändert sich, bekommt ein Eigenleben, nimmt meine Bewegungen, mein Ego auf. Es ist – nahezu immer – ein sehr befreiender, im Idealfall ein beglückender Prozess, in dem sich jede Intellektualität auflöst, die gesamte Chemie meines Körpers anders funktioniert. Dass das helfen kann, heil zu bleiben, habe ich am eigenen Leib erfahren. Denn auch ich war in der „Irrenanstalt“. Und ich hatte Glück.

Simone Scharbert – Rosa in Grau

Genau wie mir erging es Simone Scharberts Hauptperson in „Rosa in Grau“. Nun unterscheidet sich die Diagnose ihrer Protagonistin stark von der meinen und die Zeit ihres Aufenthalts in Haar-Eglfing liegt in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, das exakt macht den Unterschied und der ist gewaltig. Als Basis für Simones Geschichte dienen historische Berichte von InsassInnen jener Heilanstalt, bringt die Sammlung Prinzhorn Steine fürs Fundament und das künstlerische Schaffen von Erkrankten mit. Die Ich-Erzählerin beschreibt, sie nehme die Welt wie durch eine Scheibe wahr. Während des Lesens habe ich ständig genau das empfunden. Zwar wird in der ersten Person geschildert, ich hatte aber durchweg den Eindruck, als befände sich ein zweigeteiltes Wesen vor mir, das zugleich von außen beschreibt und vor sein Ich tätig einen Riegel schiebt, ein Unverständnis, eine Spiegelwelt, zu der nicht jeder Zugang haben darf. Nur nicht zu tief abtauchen, erfroren sein, nach außen blicken, aber nicht gesehen werden oder auch – nicht sich selbst sehen wollen.

Die Ich-Erzählerin schreibt zwar über das, was sie und ihre MitpatientInnen tun und fühlen – skizziert Verzweiflung, Wahn, Leere – aber immer mit Abstand, mit einem Schritt hinter dem Fühlen. Da ist vom Weinen die Rede – einer „Wasserflut, einer eigenen Sprache“ – die alle sprechen und die nur an diesem Ort verstanden werde.

Eugen fasziniert zugeschaut habe, wie dann meine Stirn die Wand berührt habe. Zu Beginn fast zärtlich. Als habe ich eintrauchen wollen. In dieses Weiß, in die Wand. Dass er mich, meinen Namen gerufen habe. Dann, als mein Wippen stärker wurde. Dass ich nicht reagiert hätte. Im gegenteil: Ich meine Stirn nun gegen die Wand geschlagen hätte. Immer wieder. Ohne langsamer zu werden. Mit Druck. Wut, offensichtlich. Dass er nicht gewusst habe, was zu tun sei. Und dann diese Schreibe. Hoch, dünn. Schwer zu fassen. Langgezogene Töne. Dass er an Pfauen gedacht habe. Pfauenschreie. Ich ihm Angst gemacht hätte. Mein Körper, meine Stsitmme, mein Wesen. Er ein paar Schritte auf mich zugegangen sei. Mich habe berühren wollen, abhalten. Vom weiteren Wippen. Die Haut auf der Stirn schon aufgeplatzt sei. Ich offenbar nicht bemerkt, es mir nichts ausgemacht habe. Dass ich vielleicht nichts mehr spürte. Meinen Körper, den Shcmerz. Dass er mir helfen, das Blut habe stillen wollen. Er die Hand ausgestreckt habe. Aber zurückgezuckt, schließlich gerannt sei. Den Gang entlang zu ihrem Zimmer. Ich höre ihr zu. Sie erzählt ohne Pause, aber ruhig. Ich kann mich an nichts erinnern. So viel ist also sicher. Meine Erinnerung ist ein schwarzes Geschöpf. Sie wohnt in mir. Sie ist still, erzählt nichts mehr. Seit längerem schon. Schweigt. Kein einziges Wort. Ich habe mich daran gewöhnt. An diese Schwärze. In mir. Und dass andere Menschen mehr darüber wissen, als ich selbst.“

Die – sicher nicht unbeabsichtigt – namenlose Mutter hat sich und ihren Kindern offenbar aufgrund ihrer schizophrenen Erkrankung Gewalt angetan. Man lässt sie einweisen. Eines ihrer Kinder – Rosa – erscheint ihr, ist ständig bei ihr und zugleich ein Spiegelbild ihres eigenen Selbst. Je länger sich der Klinikaufenthalt hinzieht, umso weniger werden die Halluzinationen, der Zugang zum Kindlichen. Für die Gesundung wird in der Klinik allerdings wenig getan, im Gegenteil – Gefangenschaft und fragwürdige medizinische Praktiken zeichnen ein Bild von Entmenschlichung und Vernachlässigung der Patientinnen. Einzig Schwester Käthe kümmert sich, zumindest zu Beginn und bevor sie nach einer langen Zeit die Anstalt verlässt. Sie erzählt von nationalsozialistischen Zeiten, in denen an Menschen Experimente vorgenommen wurden. Sie verschweigt nicht, dass aus dieser Zeit noch Vieles in heutigen Tagen steht und praktiziert wird.

Als die Mutter schließlich entlassen wird, hat sie Schwierigkeiten, ihr Leben wieder aufzunehmen. Ein Aufenthalt in der „Irrenanstalt“ und der Makel der geschiedenen Frau sind Kainsmale, die isolieren. Sie schafft es nicht, muss wieder zurück in die Anstalt und das für sehr lange Zeit.

In all der Ödnis schimmern Lichter. Lichter, die ich kenne und von denen ich oben geschrieben habe: Ein Patient, der malt, eine Patientin, die aus ihren eigenen Haaren das Gesicht eines Mannes auf einen Fetzen Stoff stickt, eine, die aus kleinen Streifen auf dem Boden ihres Zimmers einen Sternenhimmel baut und schließlich die Mutter selbst, deren Zuflucht, Verbindung zu Ding oder Mensch und Kraftquelle Wörter sind.

Wann immer ich kann, male ich Wörter. Mit dem Zeigefinger… auf alles, was mir unterkommt, male ich Wörter. Ich male auf Wände, auf Fenster, auf Tischplatten. Ich male auf Haut, auf Kleidung, auf Laken.“

Doch anders als bei mir gibt es in den 50er Jahren wenig Raum in solchen Einrichtungen dafür. Und so nagt die Zeit auch an unserer Hauptperson und nimmt ihr, was sie tröstet und hält. Denn zu all dem addiert sich, dass jemand, der mit psychischer Erkrankung umzugehen hat, das oft ein Leben lang tun muss – und in Anstalten wie diesen, in Zeiten wie diesen vergessen wird.

2017 erzählt der Sohn des kommissarischen Leiters der Anstalt, Peter Schmidt, in der Süddeutschen Zeitung von seinen Erlebnissen. Man habe noch lange nach Bekanntwerden der Verbrechen hinter diesen Mauern geschwiegen. Erst in den 80er- und 90er Jahren habe sich das verändert. Der Direktor Peter Brieger habe damals die Aufarbeitung vorangetrieben.

Im Haar-Eglfing wurden während des zweiten Weltkriegs Verbrechen begangen, die mancher KZ-Praktik in nichts nachstanden. Wie Brieger ermittelt, wurden bis zu 2000 PatientInnen, unter ihnen viele Kinder, umgebracht. Noch einmal 2100 PatientInnen wurden in Tötungsanstalten gebracht. Man habe direkt nach dem Krieg das Personal mit Waffengewalt zwingen müssen, den PatientInnen Essen zu geben. Das alte System, so sagt er, sei so verinnerlicht gewesen, dass nach dem Krieg brutal weitergemacht wurde wie zuvor, ohne überhaupt ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln. Schmidt selbst wurde abgesetzt, offenbar, weil alte Instanzen ihre Macht und ihre Methoden nicht aufgeben wollten. In der Zeit, in der das Buch spielt, sind also solche Praktiken durchaus noch Usus.

Schön auch ist die Gestaltung des Buches, bei der Bilder von KünstlerInnen aus psychiatrischen Einrichtungen als Illustrationen verwendet wurden. Mir gefallen Einband und Satz sowie das Format ebenfalls ausnehmend gut. Was an diesem Buch besonders hervorzuheben ist, ist Simone Scharberts unnachahmlich poetische Sprache, ihr Zeichnen von Wortlandschaften, auf denen ich als Leserin mit Wonne gesegelt bin. Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Matthijs Deen – Der Schiffskoch

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Matthijs Deen – Der Schiffskoch

Das Schiff liegt immer im Hafen. Die Crew des Feuerschiffs Texel hat nicht allzu viel zu tun und schon gar keine Abwechslung durch lange Reisen und das Streben nach dem Anlaufen des nächsten Hafens. Stattdessen freut sich die Besatzung auf das großartige, abwechslungsreiche Essen des Schiffskochs. Sie staunt nicht schlecht, als der ein Böckchen mit an Bord bringt. Aus ihm soll ein Schmoreintopf werden. Darüber freut sich nicht jeder an Bord. Denn das Tier wächst dem ein oder anderen ans Herz. Und für Unruhe inmitten eines dichten Nebels sorgt es außerdem. Der Koch bekommt Malaria und es gibt einen Toten an Bord.

Die kurze, spritzige Erzählung von Matthijs Deen, „Der Schiffskoch“, macht Spaß. Lesen!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

Ich habe Lydia Sandgrens „Gesammelte Werke“ gern gelesen, obwohl man die Geschichte um das verschwundene Multitalent und Genie Cecilia Berg, den Künstler Gustav Becker und den Möchtegernautor und Verleger Martin Berg mit seinen Kindern Rakel und Elis drastisch hätte kürzen können. Das Buch ist ein fast 900 Seiten dicker Schmöker mit Sogwirkung.

Zwei Kerle, die sich im Leben und im Scheitern üben, lieben dieselbe Frau. Der eine eher auf Abstand und im Geheimen, der andere heiratet sie. Doch die Überfliegerin, die mit dem kleinen Leben nicht zurechtkommt, ständig über soziale Hürden stolpert, hadert ebenfalls mit sich und flieht mit wenigen Worten des Abschieds. Bis ihre Tochter ihr durch die Lektüre eines Buches, das ein Vierter im Bunde schrieb, auf die Spur kommt.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Luis Sepulveda – Der Alte, der Liebesromane las

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Seine Frau ist gestorben und Antonio Bolivar lebt seitdem allein in einem kleinen Dorf am Amazonas. Als jemand Bücher aus der Stadt mit in die kleine Siedlung bringt, lernt Antonio lesen und freut sich auf immer neues Material, das per Boot bei ihm ankommt.

Luis Sepulveda - Der Alte, der Liebesromane las

Dann geschieht etwas Schreckliches: Ein Engländer, der offenbar zu einer Gruppe leichtsinniger Abenteurer gehörte, treibt übel zugerichtet in einem Kanu an. Antonio weiß sofort, was geschehen ist. Ein Ozolot, in dessen Gebiet die Jäger offenbar eingedrungen sind und dessen Kleintiere sie getötet haben, hat sich gerächt. Antonio, der den Dschungel wie seine Westentasche kennt und in freundschaftlicher Beziehung zu den Indios steht, wird gezwungen, gemeinsam mit weiteren Kumpanen auf die Jagd zu gehen. Gewinnt die Natur oder gewinnt der Mensch? Denn darum geht es eigentlich in diesem Buch.

Dramatisch und spannend. Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Linus Giese – Ich bin Linus

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Was für ein tolles, starkes, berührendes und lehrreiches Buch!

Ich habe Linus‘ erstes Coming out als trans Mann damals hier auf Facebook verfolgen können. In seinem Buch schreibt er davon, „wie er der Mann wurde, der er schon immer war“. Auch auf seiner Website Ichbinslinus.de erzählt er über seine Erfahrungen und ist sowohl mit seinem Buch als auch seiner Website ein Rolemodel für alle Männer, denen es ähnlich ging und geht wie ihm.

Linus Giese – Ich bin Linus

Linus ist studierter Germanist und Blogger und arbeitet seit 2017 als Buchhändler in einem Berliner Buchladen. Mit 31 Jahren entschloss er sich endlich als Mann zu leben und einen langen, steinigen Weg auf sich zu nehmen. Dass das nicht leicht ist, kann man sich zwar denken, einigermaßen verstehen kann man es aber erst, wenn man Linus zuhört. Neben Hürden, die bei Behörden, bei ÄrztInnen, am Arbeitsplatz und selbst bei der Post zu meistern sind, weil es dauert, bis der alte Name geändert, der Körper angepasst ist, gibt es Anfeindungen, Ausgrenzung und Unverständnis. Manches ist von grundauf böse, gehässig und menschenverachtend, anderes wird unbedacht, in Unkenntnis geäußert und verletzt deswegen nicht weniger. Denn wir leben in einer patriarchen, binär geprägten Gesellschaft, die ein strenges Denkmodell lebt, in der kaum Platz ist für jene, die sich nicht in die altbekannten Muster einordnen lassen. Hilfe ist für trans Menschen nur bedingt vorhanden, wenn sie gestalkt, verunglimpft und beschimpft, vielleicht sogar körperlich angegangen werden. Verletzungen geschehen nahezu täglich.

Neben den dunklen Seiten gibt es aber auch Licht. Und davon erzählt Linus‘ Buch ebenfalls. Welche Freude und zugleich Angst er empfand, als er sich zum ersten Mal seinen Namen auf einen Kaffeebecher schreiben ließ, welchen großartigen Menschen er begegnet, wie sich sein Körper verwandelt und endlich zu einem wird, in dem er sich wohlfühlt. Wir begleiten ihn in seinem Buch durch Hochs und Tiefs und müssen uns an mancher Stelle selbst an die Nase fassen. Dringende Leseempfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Daniel Schreiber – Allein

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich habe bereits Daniel Schreibers Biographie über Sontag und sein Essay „Zuhause“ sehr geliebt. Auch dieses Buch von Daniel Schreiber mit dem Titel „Allein“ hat mir sehr gefallen.

Daniel Schreiber – Allein

Wie lebt man als queerer Mann allein in einer Gesellschaft, die auf das Ideal der heterosexuellen, konditionierten Zweisamkeit mit ein bis drei Kindern getrimmt ist und traditionell binäre soziale Modelle bevorzugt? Wie einsam ist man mitten in der Pandemie, einer Zeit in der Schwebe? Was macht uns aus? Muss Leben Sinn haben oder lebt es sich auch ganz gut ohne? Haben Stricken, Häkeln und Gärtnern therapeutischen Wert?

Viele Menschen leben allein, freiwillig oder gezwungener Maßen. Was manchmal Freiheit und Selbstbestimmtheit sein kann, löst zu anderer Zeit einen unstillbar erscheinenden emotionalen Hunger aus, verursacht seelischen Schmerz. Alleinsein ist schambesetzt. Menschen, die alleine leben, fühlen sich oft, als scheiterten sie, weil sie die Gesellschaftsideale nicht erfüllen können oder wollen. Alleinsein wird als Indiz für die eigene Unbedeutsamkeit und fehlende Attraktivität wahrgenommen. Und doch: Alleinleben ist eine Lebensform unter vielen möglichen Optionen. Sich völlig abzuschotten jedoch, macht krank. Menschen sind soziale Wesen, spiegeln und erfahren sich in Anderen, was nicht gegen das Alleinleben spricht. Freundschaften spielen eine wesentliche Rolle bei der Ausrichtung, nicht nur des Lebens als Single. Sie können je nach Konstrukt zu unverbindlich und fragil sein, um Halt und soziale Orientierung zu geben oder sinnstiftend, tröstend und gemeinschaftsbildend wirken.

Schreiber bemüht eigene Erfahrungen und Lektüren, zitiert PhilosophInnen und SoziologInnen, um all die Fragen rund um das Alleinsein, die Einsamkeit, die Liebe, Familie und Freundschaft zu beleuchten. Er laviert sicher, sehr persönlich und offen durch die Minenfelder der Emotionen, Theorien und Erlebnisse, beschreibt Sehnsüchte und Enttäuschungen. Wir haben Teil auch an der Hoffnung, an der Entwicklung hin zu selbstwirksamen Methoden und Erkenntnissen, die uns zeigen, wie ein Leben, mit all seinen Unwägbarkeiten allein oder zu mehreren geführt werden kann und darf.

Daumen hoch! Dicke Empfehlung!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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Elisabeth Alexander, Isabella Maidment, Andrea Schlieker – Lynette Yiadom-Boakye

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Ich hatte das große Glück, die Werkausstellung von Lynette Yiadom-Boakye im K20 zu besuchen. Seitdem hängen ein paar ihrer Bilder – leider nur als Postkarten oder Fotos – in unserer Wohnung. Auch an diesem Bildband, in dem 80 ihrer Werke abgebildet sind, konnte ich nicht vorbeigehen. Er begleitet die Ausstellung der Malerin und Schriftstellerin, die in London geboren und aufgewachsen ist.

Alexander, Maidment, Schlieker - Lynette Yiadom-Boakye - Fliegen im Verbund mit der Nacht

Ihre Bilder findet man in verschiedenen Sammlungen in Europa und den USA. In Düsseldorf waren außerdem einige bisher noch nicht veröffentliche Bilder zu sehen. Yiadom-Boakye malt Menschen, die es so nicht gibt. Etwas, das ich ihr in meiner Malerei nachtue. Was ihre Bilder für mich so besonders macht, ist die Lebendigkeit, mit der sie ihre Figuren darstellt. Bei Lynette Yiadom-Boakyes Personage tanzen Ruhe und Kraft miteinander. Für mich hatten diese Menschen eine unglaubliche Präsenz. Yiadom-Boakye schreibt außerdem Kurzgeschichten und sagt von sich selbst, sie schreibe über das, was sie nicht malen könne. Einige ihrer Texte findet man auch im Bildband. Eine tolle Künstlerin! Ich bin glücklich, sie für mich entdeckt zu haben!

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Für alle hier besprochenen Bücher gilt: Unterstützt möglichst den lokalen Buchhandel!

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