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Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...

Gleichermaßen Hausfrau, Pflegerin, Mutter, nie genügende Ehefrau und aufopfernde Sekretärin – dienend bis zum Schluss, das ist das Bild, das LeserInnen von der Protagonistin in „Lügen über meine Mutter“ erhalten.

Ist es Überzeichnung oder eine Realität, wie sie vielfach bis heute vorherrscht? Nun handelt es sich hier um die autofiktionale Aufarbeitung von Dröschers Elternhaus. So manch einem in dieser Familie sollte man im Nachhinein kräftig in den Hintern treten.

Erzählt wird sowohl aus der Sicht eines sechsjährigen Kindes, als auch aus der Perspektive der erwachsenen Tochter dieser Mutter. Dröscher entblättert das nicht untypische Leben einer Frau in den 70er, 80er und 90er-Jahre des just zurückliegenden Jahrhunderts.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Zwei Kinder, die Pflege für die demente Oma, die Sorge um Benachteiligte und das Engagement in der Nachbarschaft, als drittes Quasikind der Vater, der sich selbst naturgemäß völlig anders sieht, all das schultert die Dame des Hauses. Sie duldet die Herabsetzungen und Demütigungen durch ihren Mann. Sie ist auch dann noch Handelnde, als ihr Körper sich vor Schmerzen krümmt. Sie macht, trägt die Last, entscheidet sich mehrfach heimlich gegen ein Kind mit ihrem Mann und treibt ab. Der ist schlicht ein Riesenarschloch. Für seine Fehler verantwortlich zeichnet – zumindest seiner Ansicht nach – die Frau, insbesondere ihr „wenig präsentables Äußeres“ und die fehlende Disziplin, die sie bei ihrem Körper und auch sonst an den Tag legt. Seine Wünsche haben Vorrang, ihre sind zu teuer, zu unsinnig, zu unbedeutend, zu dumm und – das ist schwer erträglich – sie wehrt sich kaum. Während er im Cabrio zum Tennisplatz düst und einen auf dicke Hose macht, bringt sie die Oma zu Bett. Statt sich zu verweigern, wenn dieser Idiot mal wieder nach einer Diät verlangt, statt diesen Clown endlich zu verlassen, als sie finanziell unabhängig ist, hält sie durch, sucht die Schuld bei sich, investiert das Geld ins neue, repräsentative Haus, in seine Autoträume und in ihren scheiternden Chef, Menschen, die es angeblich „brauchen“, bis nichts mehr vom Erbe übrig ist. Sie isst heimlich, versagt sich offenen Genuss. Der Kinder wegen oder was auch sonst der Grund dafür sein mag – sie bleibt und packt lediglich einen kleinen Koffer, als sie endlich, nach Volljährigkeit ihres letzten Kindes und Tod der Oma, Ehemann und Haus verlässt. Die Tochter übernimmt die Sichtweise ihres Vaters, bis in die heutige Zeit hinein und schämt sich für den dicken Hintern ihrer Frau Mama.

Der Scheindialog, den sie mit ihr führt, ist lasch, wenig engagiert, wenig selbstkritisch. Weight Watchers erscheint „fast wie eine Therapiesitzung“ heißt es an einer Stelle. Diese stets noch geltende gesellschaftliche Ablehnung dicker Menschen ist etwas, das mich besonders betroffen gemacht hat. Wer Zeit seines Lebens nicht „normalgewichtig“ ist und einen ständigen Kampf gegen seine Körperformen ficht, weiß, wie verletzend es ist, wenn Männer einen nicht mehr oder erst gar nicht haben wollen, weil sie eine „schlanke Partnerin“ bevorzugen. Wenn Frauen einen für die Abnahme beglückwünschen und in Frauenrunden über Pfunde der Nachbarin lästern. Da mag die Nadel auf der Waage auch nur minimal neben den sogenannten Idealmaßen liegen, dieser Anspruch wirkt sich auf das gesamte Wesen aus. Es entwickelt sich ein ständig präsentes Gefühl des Nichtgenügens. Eine Akzeptanz der eigenen „anderen“ Körperformen – die im Übrigen bei den meisten Männern sehr viel eher toleriert werden als bei Frauen – genussvolles Umgehen mit Essen ist schier unmöglich. Während Kinder und Mann sich die Lasagne reinschaufeln, soll Frau in Äpfel und Knäckebrot beißen, auch in dieser Familie.

Und auch hier könnte jene Frau ihren Mann überragen. Sie ist klug, ehrgeizig, über die Maßen engagiert und managt ein ganzen Heer. Und doch buckelt sie, unterwirft sich einer patriarchalen gesellschaftlichen Norm, nach der Frau „schön“ im Sinne eines – sich im übrigen wandelnden – sexualisierten Ideals zu sein haben, selbstverständlich für Kinder, die Pflege der Eltern, den Haushalt und das Wohlergehen ihres Mannes und Chefs verantwortlich sind. Natürlich stoßen sogar Ärzte ins gleiche Horn, wenn es um die schlanke Linie geht und all die schlanken Gesellinnen und Gesellen fühlen sich bemüßigt, ihre Sorge über die Gesundheit der Dicken kundzutun. Selten tun sie das, wenn der Herr Papa mal wieder einen Whiskey kippt oder die zwanzigste Zigarette raucht.

Dass dieser Körper, dieses Leben dieser Frau gehört und sie selbst entscheidet, wie und was sie damit macht, kommt niemandem in den Sinn. Diese Frau ist ein autonomes Wesen und keine Service-Agentur. Dass die schlanke, sportliche Tochter ihren Vater an einer Stelle in Schutz nimmt und nicht für die Mutter Partei ergreift, ist unverzeihlich. Man spürt deutlich, dass hier jemand nicht ansatzweise begreift, dass es okay ist, einen anderen Körper zu haben. Man spürt eine Geringschätzung, die sich über den Vater an die Tochter übertragen hat. Das ist tragisch und ungerecht. Den Körper von anderen der Lächerlichkeit preiszugeben, ist übergriffig. Eine Frau dermaßen herabzusetzen und ihre Leistung in keiner Weise zu würdigen und sie dermaßen auszubeuten, ist zum Kotzen.

Ich hätte oft schreien können vor Wut und Entsetzen.

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

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