Isobel Markus – Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Isobel Markus lebt in Berlin und studierte dort Anglistik und Bibliothekswissenschaften. Sie ist als freie Autorin unterwegs und wirkte bei diversen Kunst- und Fotografie-Projekten mit. Außerdem ist sie Veranstalterin der Berliner Salonage, die, wie sie selbst auf ihrer Website schreibt „die Tradition der historischen Berliner Salons mit gegenwärtiger Kunst“ verbindet. „Sie bietet bekannten und noch ganz unbekannten KünstlerInnen verschiedener Richtungen eine thematische Bühne, auf der sie Neues ihrer Arbeit vorstellen und mit dem Publikum in Austausch treten.“
Auf Facebook berichtet sie in kleinen, amüsanten Skizzen vom Alltag in der großen Stadt. Fortgesetzt wird diese Form in ihrem Buch „Stadt der ausgefallenen Leuchtbuchstaben“. Ihre Miniaturen sind Streiflichter des Lebens, mal humorig, mal anrührend im Ton, dann wieder traurig, nachdenklich, laut oder leise.
Ich bin kein Fan von Patti Smith. Auch bei Helene Hegemann ging ich bisher verhalten ans Werk. Und obwohl das so ist, habe ich mir Helene Hegemanns Buch „Patti Smith – über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition“ gekauft.
Ich besitze alle Bücher aus Patti Smith‘ Feder, weil ich sie irgendwann mal alle auf einmal erworben habe. Allesamt finde ich bescheiden. Ihre sehr verschwurbelte, assoziative Art zu schreiben, ihr Abdriften in Traumsquenzen, ihre unterwürfige Verehrung berühmter Zeitgenossen oder anderer sogenannter Größen der Zeitgeschichte, ihre an Wallfahrten erinnernden Besuche bei Menschen mit bekannten Namen… all das machte mich wahnsinnig. Als färbe deren Glamour auf sie ab. Ich verlor rasch die Geduld und pfefferte jeden einzelnen Erguss in die Ecke.
Von Hegemanns Buch habe ich im Radio gehört und horchte auf. Sie hat ihre ganz eigenen Erfahrungen mit dieser Frau gemacht und sie decken sich gelegentlich mit meinen Eindrücken. Doch abgesehen davon ist Hegemanns Text eine Erzählung über einen Teil ihrer eigenen Geschichte, der fesselt und mich beeindruckt. Auch Hegemanns Stil ist schnodderig, eigenwillig und so, als spräche sie vielmehr, als dass sie schreibt. Ihr Blick auf die Dinge ist klar, analytisch, persönlich und manchmal provokant.
„H wie Habicht“ von Helen MacDonald war mit vielen Erwartungen besetzt. Einige hatten mir begeistert davon erzählt und das Buch über den Klee gelobt.
Ich muss gestehen, ich kann die Begeisterung nicht teilen. Nun bin ich nicht sehr enthusiastisch, wenn es um die Falknerei geht, über die man in diesem Buch viel erfährt.
Es ist keinesfalls ein schlechtes Buch. Helen Macdonald überwindet durch das Verhältnis und im Abrichten eines Habichts die Trauer um den Tod ihres Vaters. Einige Sätze sind bemerkenswert und ich kam nicht ohne Dogearing aus. Aber dennoch erreichte mich ihre Geschichte nicht. Sie blieb seltsam seelenlos. Das mag daran gelegen haben, dass die technischen Details der Falknerei und theoretischen Abhandlungen und Konsulationen sich so oft vor die Beziehung dieser Frau zum Vogel schoben. Und gerade die hat mich am meisten interessiert.
Ufff… „The only plane in the sky“ ist nichts für schwache Nerven.
Garrett M. Graff holt den Leser mitten hinein in die Ereignisse von 9/11. Wir begegnen in diesem Buch den Menschen, die diesen Tag aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben und nehmen aus ihren sehr zu Herzen gehenden Erzählungen eine sehr detaillierte Chronologie der Ereignisse mit. Die amerikanische Mentalität wird dabei genauso sichtbar, wie der Schmerz und die immer noch offene Wunde, die weitere Verletzungen an anderer Stelle, in Afghanistan, nach sich gezogen hat. Es erzählen büroangestellte Überlebende aus den beiden Türmen und des Pentagon, Feuerwehrleute, PolizistInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen, SchülerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen, die Angehörigen, die Voicemails eben jener, Anrainer an der Absturzstelle von Flug 93, Nachkommen der Getöteten…
Es ist oft erschütternd, bedrückend und berührend, dieses Buch. Ich habe häufig absetzen müssen, da mir bewusst war, dass es sich hier nicht um Fiktion, sondern um schreckliche Wahrheiten handelte. Was Menschen Menschen antun können… !
Im August 1989 taucht im oberösterreichischen Dunkelblum ein Besucher auf, der Nachfahre eines dort lebenden Mannes war. Eben jener Mann wurde erschossen… oder doch nur verjagt? Auf einer Wiese wird ein Skelett ausgegraben und Bewohner des Städtchens entpuppen sich als Nazis. Ein jeder hat sein Scherflein zur dunklen Vergangenheit beigetragen. Die das Geheimnis enthüllen wollen, sich als junge Menschen oder Zeitzeugen der Verantwortung stellen, sterben oder verschwinden plötzlich.
Auf Basis der realen Ermordung von Juden in Rechnitz entwickelt Eva Menasse sprachgewaltig eine verzweigte Geschichte über Schweigen, alternative Wahrheitsbildung und subtile wie auch offene Gewalt. Beim Massaker von Rechnitz wurden am 24. und 25. März 1945 vermutlich an die 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in der Nähe des Schlosses Rechnitz bei Rechnitz im Burgenland ermordet. Das Massaker war eines der Verbrechen kurz vor Kriegsende.
Der Detailreichtum von „Dunkelblum“, das einfließende Lokalkolorit machen es stellenweise schwer, der Geschichte zu folgen. Dennoch eine Empfehlung.
„Auch wenn ich keine Angst davor habe, öffentlich zu reden oder als ehrgeizig wahrgenommen zu werden, was beides klassische berufliche Stolpersteine für Frauen sind, falle ich doch einem ähnlich tückischen Problem zum Opfer: Ich gebe meine Macht ab, indem ich ausweiche, indem ich sexistische Bemerkungen nicht thematisiere, verhalte ich mich so, als ob ich keine Feministin wäre. Und, ehrlich gesagt, ich habe es satt, Feministin zu sein. Ich habe es satt, dafür verantwortlich zu sein, Sexismus zu benennen UND zu beheben. Ich habe es satt, dass das so notwendig und so schwierig ist.“
Emilie Pines „Botschaften an mich selbst“ sind eine sehr aufrichtige Auseinandersetzung mit sich selbst, sind eine Hoffnung und gelegentlich Spiegel.
Manchmal musste ich die Luft anhalten, das Buch nimmt mich ziemlich mit. Unbedingt: Empfehlung!
Edgar Selges Buch „Hast Du uns endlich gefunden“… ich zögere, denn ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll.
Erzählt wird die Geschichte von Edgar, der vom Vater nicht selten gezüchtigt, einmal gar sexuell angegangen wird. Der Vater ist ein Nazi, dem nach dem Krieg die Ausübung seines Berufs als Jurist verboten wird, der aber dennoch, ungeachtet seiner Geschichte, als Leiter eines Gefängnisses jungen Menschen zur Rehabilitation und Ausbildung als Schreiner verhelfen darf. Die gefertigten Möbel landen allesamt in seiner Wohnung, wo sie von den Häftlingen bei Hauskonzerten wiedererkannt werden. Der Vater macht leidenschaftlich Musik, meint, sich im zweifelhaften Licht alternder, ehemals linientreuer Musiker, die ihn offen demütigen, sonnen zu können. In einem anderen Gefängnis, dem er nach dem Krieg vorstand, unterstützte er ehemalige Parteigenossen und verschaffte ihnen Vergünstigungen.
Im Verlauf der Geschichte formt sich das Bild einer Familie und des Aufwachsens eines Jungen im Zwiespalt. Er mäandert zwischen den Anklagen der erwachsenen Brüder gegenüber den Eltern und ihrer Vergangenheit und dem Altnazitum, der Gewaltverherrlichung und -ausbrüchen des Vaters hin und her. Später, als Erwachsener konfrontiert er die Eltern schonungslos mit den Bildern der Vernichtungslager. Als Kind möchte Edgar dazugehören, gesehen werden von diesem Vater und einer desinteressierten Mutter. Gleichzeitig bricht er Regeln, stiehlt, um Filme im Kino sehen zu können und wird bei seinen Lügen ertappt. Edgar leidet, flieht in die Literatur, in Geschichten, ins Erzählen, spürt sein Außenseitertum und kann, selbst Jahrzehnte später, nicht anders, als den Vater zu hassen und gleichzeitig zu lieben. Er träumt wiederholt von seinen Eltern, als sie schon längst tot sind und kämpft mit ihren Geistern. Edgar kommt nicht los.
Trotz der tragischen Story hat mich das Buch nicht wirklich erreicht. Es hatte etwas Aufgesetztes, Schiefes, das ich nicht recht benennen kann. Aber ich bin sicher, es findet seine LeserInnen.
„Nur die Geschichte kann die Wahrheit sein, nur sie kann diesen Eisberg zersprengen“
„Alles, was bei mir keine Sprache fand, soll auf Euren Zungen Seiten aufschlagen“
… das sind nur zwei der Sätze aus Dinçer Güçyeters Buch „Unser Deutschlandmärchen“ die ein Echo in mir verursachen. Was für ein schönes, schmerzliches und echtes Buch das ist! Was für eine außergewöhnliche Form und Vielfalt!
Es ist zugleich eine Ode an die Mutter, als auch die erwachsene Abgrenzung von ihr, die Suche, das Finden eines eigenen Weges, die schonungslose Darstellung zermürbender Erwartungen und Last in Heimat und Fremde, die austauschbar sind, nicht klar benennbar, ein irgendwo dazwischen, lebendig und verwundend, verschwimmend, überlappend und von Menschen erst beseelt oder verpestet. Dinçer schildert all das mit einer brillanten eigenen, unverwechselbaren und brennenden, realen Stimme, die einen nicht mehr loslässt!
Vor dem Booker-Prize hatte ich noch nie von Diane Cookson gehört. Es wird nicht das letzte Buch sein, das ich von ihr lese.
Das Buch „The New Wilderness“ ist eine Dystopie. In den Städten kann man kaum noch atmen. Die Verhältnisse sind insgesamt prekär und so entschließt sich ein Wissenschaftler zu einem Experiment, zumal seine vierjährige Tochter anderenfalls sterben würde. Gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen geht er als Nomade in die Wildnis und probt das Überleben ohne zivilisatorische Hilfsmittel in der Natur. Während seine Tochter zum Teil dieser neuen Umgebung wird, kämpft seine Frau mit den Umständen und geht einen ganz eigenen Weg. Rollen und Rituale formen sich, Bewacher drangsalieren und Ereignisse überschlagen sich. Erzählt wird mit wechselnder Perspektive, unaufgeregt und doch emotional packend.
Mae Holland beginnt durch Vermittlung ihrer Freundin Annie einen Job in einer angesagten Firma, dem „Circle“. Der stylische, hippe Internetkonzern, der sich Google, Apple, Facebook und Twitter einverleibt hat, indem er seine Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann, bemächtigt sich sukzessive aller Lebensbereiche. Privatheit wird zunehmend Geschichte, Kindern werden als Babies schonTracking- und Speicherchips eingepflanzt und auch Mae kann sich der Gehirnwäsche des Konzerns nicht entziehen, wird zu dessen unschuldigem Gesicht.Der Kreis soll sich schließen. Auf dem Weg dorthin aber gibt es Opfer…
Dave Eggers „The Circle“ ist eine Dystopie, die es in sich hat und, obschon manchmal schon sehr polemisch, keine Minute langweilig wurde. Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk, aber eine spannende, düstere Zukunftsvision.
Ich habe viele seiner Konzerte besucht und bekenne, ich mag Chilly Gonzales und seine Musik. Ein Freund von mir, Pianist seines Zeichens, behauptet, Chilly Gonzales sei zu vernachlässigen und werde überschätzt. Mich interessiert das nicht. Erstens, weil der Mann gar nicht den Anspruch hat, zweitens, weil ich liebe, dass er so frei im Ausdruck ist, sich Schubladen entzieht, so freudvoll und ungezwungen mit Musik umgeht, dass es ansteckt, begeistert, einnimmt. Er tritt in Pantoffeln und Bademantel auf und füllt ganz zu Recht Konzertsäle auf der ganzen Welt. Ich liebe „Room 29“, eine Aufnahme, die er zusammen mit Jarvis Cocker realisiert hat. In diesem Album geht es um das berühmte Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard und das Zimmer mit der Nummer 29, in dem viele Berühmtheiten nächtigten, soffen, liebten und litten. Es fängt die Menschlichkeit, das Scheitern, den Absturz ein, ist wütend, sanft und klar zugleich. Enya – nun – eine Musikerin, die die Musikgemeinde ebenso spaltet, wie der Autor, der das Buch über sie verfasst. Ist das Kitsch oder ist das Kunst, ist die Frage, die sich Chilly Gonzales nicht stellt! Denn Musik, so meint er, muss keine intellektuellen Ansprüche erfüllen, wenn sie dich berührt.
Dieses Buch ist eine Hommage an den eigenen, jenseits des Konsens existierenden Musikgeschmacks und einfach bezaubernd.
Ob seine Präsidentschaft erfolgreich war? Ob er hinter den hohen Erwartungen zurückgeblieben ist, viele Fehler gemacht oder vieles richtig gemacht hat? Die Antwort fällt mir schwer. Obama ist sicherlich eines für mich: Ein typischer Amerikaner. Ich habe mich immer schwer damit getan, die Mentalität zu begreifen, die von so vielen Idealen, aber auch von Puritanismus, gelegentlich gar religiösem Fanatismus und Heldenglauben geprägt ist. Dieser Satz „Du kannst alles erreichen“ ist mir suspekt.
Und doch liegt „Promised Land“ auf dem Stapel, außerdem zwei Bücher über das kulturelle Erbe von Barack Obamas Vater und eines über seine Studienzeit.
Obama entspringt meiner Generation, ist gerade mal zwei Jahre älter als ich, ist aber in einer völlig anderen Welt aufgewachsen. Amerika war in einer Zeit, in der der Krieg gerade mal zwanzig Jahre zurücklag, als ich geboren wurde, die Besatzung sichtbar, Amerikaner in einem der Nachbardörfer stationiert waren, ausschließlich durch amerikanische Filme erste Vorbilder konstruiert wurden, trotz allem auch für mich eine feste Größe. Mich interessierte Obamas Motivation, seine Idee hinter dem Wechsel zu einem anderen Bewusstsein der Amerikaner, der Grund für sein Engagement als Politiker, Themen, die im Buch „Ein amerikanischer Traum“ enthalten sind. Die Bürgerechtsbewegung, die Wut der Zurückgelassenen, die Gräben innerhalb der amerikanischen Gesellschaft werden genauso behandelt, wie scheinbar profaneres, das Verhältnis zu seiner Herkunftsfamilie in Kenia etwa und was er an Erkenntnissen und neuen Beziehungen aus der Begegnung mit ihr gewinnt. Obama wächst als Sohn einer weißen Amerikanerin und eines schwarzen Amerikaners, schließlich als Stiefsohn eines Indonesiers auf, lebt auf Hawai, in Indonesien, Kalifornien und Chicago. Seine durch Herkunft und Ausbildung entstehende Priviligiertheit, die ihn herauskatapultiert aus dem sonst üblichen Alltag vieler schwarzer Amerikaner weckt breites Misstrauen. In Amerika schwarz zu sein, ist schmerzhaft. Konfrontationen und Kämpfe sind tägliches Geschäft. Auch das schildert er. Obama arbeitet als Stadtteil-Helfer, sammelt Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen Weißen und Schwarzen, begegnet weißer Überheblichkeit, schwarzer Resignation, lernt religiöse Ignoranz kennen und politische (In)kompetenz.
Obama setzt sich in diesem Buch kritisch, und nach Verstehen suchend mit allen Bevölkerungsgruppen auseinander. Er baut Idealmodelle, pauschalisiert an einigen Stellen, entwickelt eine eigene „Attitude“. Nun…gibt es den amerikanischen Traum? Offenbar gibt es einen äußerst starken Glauben daran und eine unausgesprochene Guideline, einen Maßstab an dem Gescheiterte in dieser Gesellschaft schonungslos gemessen werden. Brüche sind unübersehbar.
Der Autor heißt Auke Hulst und sein Buch „De Mitsukoshi Troostbaby Company“. Es ist auf Niederländisch erschienen und es bleibt zu hoffen, dass es eine/n VerlegerIn gibt, der/die dieses Buch der deutschen Leserschaft zugänglich macht.
Der erste Satz des Buches verbirgt sich unter einem Strich und lautet, „Ich wünschte, ich könnte alles noch einmal tun“. Ist das nun ein Wunsch, der ausgemerzt gehört? Lesbar bleibt er und damit das Bewusstsein erhalten, dass man sich etwas wünschen kann, der Wunsch vielleicht sogar erfüllt wird, dann aber doch alles anders kommt, als gedacht. Denn, so der Rückschluss aus allem, Leben ist nicht kontrollierbar.
Die Handlung besteht aus zwei Erzählsträngen. Im ersten wird von einem Mann erzählt, der nach einem schrecklichen Verlust, den er selbst noch gar nicht so recht einzuordnen weiß, einen Androiden, ein künstliches Kind adoptiert. Nachdem er und seine ehemalige Freundin ein Kind erwarteten, entschied sich seine Freundin gegen die Empfängnis. Sie ließ das Kind abtreiben. Der Vater akzeptierte und verstand das Ansinnen seiner Partnerin, deren Körper es hätte austragen und gebären müssen, deren Geist sich ihm nicht mehr verbunden sah. Nun ist es die Adoption, mit der er versucht, auf seine Weise seine Trauer zu verarbeiten. Aber kann eine Maschine mit Namen Scottie, der man seine und ihre DNA eingepflanzt hat, einen Menschen ersetzen und einen Verlust heilen? Scottie hat Gefühle, empfindet Freude und Schmerz und doch entdeckt sie eines Tages, dass sie anders ist. Im zweiten Erzählstrang gewinnt der Leser Einblick in ein Buch, dass der Protagonist, Auke van der Hulst – das Alter Ego von Auke Hulst – schreibt. Auch Kaj verliert sein Kind durch Abtreibung. Nur ist es diesmal nicht das Computerkind, das als Heilmittel funktionieren soll, sondern Kaj selbst, der eine Zeitreise unternimmt, um die Vergangenheit zu verändern. Ist das eine Alternative, kann das einen vermeintlichen Fehler korrigieren? Wachsen nicht neue Hürden?
Hulst untersucht Rollen von Vätern, Beziehung undMenschsein, Verlust und Liebe auf höchst spannende, philosophisch anmutende Weise. Ich habe mich innerhalb dieser 600 Seiten keine einzige Sekunde gelangweilt! Versiert formuliert, vielschichtig, tiefgründig – ein echter Schatz!
Eine E-Mail bringt Hanna aus dem Tritt. Sie, Forscherin bei einer wichtigen Antarktis-Expedition, bei der es um den entscheidenden, letzten Vorstoß und wertvolle Erkenntnisse zum Klima der Vergangenheit geht, erhält die Nachricht von einer Person, die sie mit Amundsen anredet und mitteilt „Scott ist tot, melde dich, Wilson“. Erinnerungen schlagen wie Wellen über ihr zusammen und plötzlich ist die vor Jahren verschwundene Freundin Fido wieder in ihren Gedanken. Langsam und mit zunehmendem Verlust der Kontrolle im ewigen Eis enthüllt sich die Vergangenheit vor den Augen der LeserInnen. In dem zunächst vertraut agierenden Kreis des Polarteams nehmen die Spannungen zu und Hannas Sicherheit gerät gehörig ins Wanken.
Jana erforscht die Zukunft in Freiburg und bekommt eines Tages Post von einem Fremden. Der Busfahrer Johan schickt ihr ihren Kalender zurück, den sie dort offenbar vor Jahren vergaß. Und so entwickelt sich zwischen den beiden ein eigentümlicher Briefwechsel, in dem Johan davon berichtet, dass er den Kontakt zu seiner Tochter verloren hat und wie sehr ihn das bedrückt. Doch auch Jana muss sich mit alten Wunden beschäftigen. Schließlich finden beide heraus, dass nicht nur ihre Lebenswege sich ähneln, sondern dass es auch ganz reale Dinge gibt, die beide gemeinsam haben.
Über dieses Buch habe ich Anne von Canal, die hier ein Projekt mit ihrem Freund, Heikko Deutschmann Wirklichkeit werden lässt, schätzen gelernt und mir all ihre weiteren Veröffentlichungen zugelegt. Dieses Buch ist voller Tiefgang, schöner Sätze und Gedanken. Und es schmerzt mich außerordentlich, dass man von dieser Autorin nie mehr etwas lesen wird, denn sie starb vor wenigen Wochen an der heimtückischen Krankheit ALS.
Alle der 17 Essays in „Homo irrealis“ von André Aciman enthalten autobiographische Sequenzen. Ästhetik, Kunst und individueller Alltag werden miteinander verwoben, um zu erklären, welchen Stellenwert Poesie und Kunst für ein – sein – Leben haben oder haben können. „Homo irrealis“ befasst sich mit dem Zwischenraum, dem Leben, wie es in unseren Köpfen entsteht, in Erinnerungen markiert oder in Tagträumen visioniert wird. Es geht häufig um das „Hätte-sein-konnen“, das „Nie-geschehen-sein“, „Geschehen-können“, das „Vielleicht“ und ein nebliges Durchscheinen, die Prägung der Vergangenheit in der oder auf die Gegenwart.
Zu Beginn des Buches führt uns Aciman in eine U-Bahn von New York, in der ihm ein Gedicht auf einem Plakat auffällt: Der Text begegnet ihm jeden Tag auf eine andere Art und Weise, kommuniziert jedes Mal mit ihm als einem anderen Menschen als am Tag zuvor. An anderer Stelle trägt es ihn zurück in sein Herkunftsland und dort nach Alexandria, das es so, wie er es kannte, heute nicht mehr gibt. Wir begleiten Aciman gelegentlich an einen Ort außerhalb der Zeit. Er reist nach Rom oder Paris. Er trifft Freud, Patrick Phillips, C.P. Cavafy, Dostojewski, Gogol und Puschkin. Er liest Sebald und Proust, betrachtet Monet, Sloan und Corot. Sein Wiederholen des Musters, dem er die Überschrift „Homo irrealis“ gibt, läuft allerdings bald ins Leere. Ich war stark versucht, die Lektüre „mitten in New York“ abzubrechen. Am Schluss überrascht Aciman aber noch einmal mit einem Essay, das sich „Unfinished Thoughts on Fernando Pessoa“ nennt.
Fazit: Ich würde es nicht nochmal kaufen. Eine verlorene Lektüre war es dennoch nicht.