Norderschauholm hat mich gefunden

Der vorläufige 2. Teil der Norderschauholm-Chronik

 von Dirk Jürgensen ...

Der Kontakt

Oehe © Jürgensen - DüsseldorfMan sollte sich nicht immer auf die Technik verlassen. So fand ich neulich im Spamordner wieder einmal eine E-Mail, die dort gar nicht hingehörte.
Ein Jesper Jessen stellte sich darin als Wirt des Krugs von Norderschauholm vor, einem kleinen Dorf auf einer Halbinsel an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins.

Da der Tourismus die insgesamt knapp fünfzig Holmer – so würden sich die Einheimischen nennen – aufgrund einer verkehrsmäßig höchst ungünstigen Lage bislang verschont habe, würden diese viel Zeit mit dem Lesen verbringen. Er, Jesper Jessen, habe in seinem Krug bereits vor dreißig Jahren einen monatlich tagenden Lesestammtisch ins Leben gerufen, der von den Holmerinnen und Holmern auch heute noch gut angenommen würde. Dort stelle man aus Schleswig oder Flensburg mitgebrachte Neuerwerbungen und geerbte alte Schinken vor, empfahl die einen Romane oder Fachbücher und riet von anderen ab. Manchmal würde bis spät in die Nacht energisch und laut diskutiert, weil man nicht immer ein einheitliches Urteil finden könne. Insgesamt sei der Bücherstammtisch jedoch ein von Bier und Köm begleiteter Höhepunkt des Dorflebens, auf das sich alle Holmer immer wieder freuten.

Zwar verstand ich noch nicht, worauf der Wirt hinaus wollte, aber es schien sich bei diesem Norderschauholm um ein besonderes Dorf zu handeln, schließlich hätte ich einen solchen Literaturzirkel eher in einer Großstadt als in einem so kleinen Dorf erwartet. Aber vermutlich waren das nur die üblichen Vorurteile eines arroganten Städters. Mein Interesse war jedenfalls geweckt.

Leider habe der Stammtisch, fuhr Jesper Jessen fort, in den letzten Monaten etwas an neuen Anregungen missen lassen. Daher wolle man, er näherte sich also langsam seinem Anliegen, nun endlich auch einmal etwas frisches Blut in den Stammtisch mischen, und nachdem einige Mitglieder den Vorschlag gemacht hätten, dass man ab und an vielleicht eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller zu einer Lesung einladen könne, habe man ihm den Auftrag gegeben, sich darum zu kümmern.

Seine Kellnerin Stine Möller habe vorgeschlagen, dass man zur Recherche unbedingt das Internet nutzen solle. Leider aber sei die Holmer Leitung kaum zu gebrauchen und so habe er mit Stine einen Ruhetag genutzt, um sich an einen Computer der Flensburger Stadtbücherei zu setzen.

Irgendwie, man könne gar nicht mehr die treffenden Suchbegriffe nachvollziehen, seien sie auf meine Homepage und eben auch auf eine meiner Geschichten gestoßen. Da es in diesem Text um die von mir – das muss ich bemerken: nicht nur vorgeblich – bevorzugte Zubereitung von Seefisch gehe und er, Jesper, als Wirt und Koch doch die gleichen Ansichten wie ich verträte, und sie, Stine, der Meinung sei, dass ein lokaler Bezug für den Anfang ideal für die erste Gastlesung sei, die, so ihre spontane Idee, während der Norderschauholmer Tage des Butts zwischen dem fünften und dem siebten Mai stattfinden solle. Übrigens hätte das alles nichts mit dem Butt vom Günter Grass zu tun.

Der Stammtisch und alle sonstigen Holmer würden sich sehr freuen, wenn ich die hiermit ausgesprochene Einladung annehmen könne. Um die Kosten für Benzin, Kost und Logis solle ich mir keine Gedanken machen und wegen der schlechten Internetleitung bitte lieber anrufen als per Email antworten. Ein normaler Brief ginge natürlich auch.


So hat mich also Norderschauholm gefunden und zu sich eingeladen. Und wie Sie sich denken können, nehme ich die Einladung im Folgenden an, sonst käme schließlich der ganze Rest, den ich mir noch auszudenken habe, gar nicht zustande.


Meine Liebe zum Norden, zum Meer, die Tatsache, dass ich mich in der Gegend recht gut auskenne und zu meiner großen Überraschung trotzdem noch nie etwas von Norderschauholm gehört hatte, reizte mich.
Auch hatte ich Anfang Mai noch nichts vor, wie auch sonst Einladungen zu Lesungen eher spärlich gesät waren.

Da die Mail allerdings schon vier Wochen in meinem Spamordner verbracht hatte, ging ich davon aus, dass das Duo Jessen/Möller längst eine Alternative für mich aufgetan haben musste. Trotzdem wählte ich die angegebene Festnetznummer. Nach wenigen Augenblicken hörte ich ein langgezogenes »Moooiin, Jessen hiea, Holmkrooch!«

»Ja, Moin, Jürgensen hier. Ich rufe aus Düsseldorf an und …«

»Mensch«, kam es zurück, »dascha schön, dat se doch anropn.«


Da mir das Plattdeutsche im Schriftlichen etwas zu mühselig von der Hand und beim Vorlesen nicht recht von der Zunge geht und die Verständlichkeit im übrigen deutschen Sprachraum leiden könnte, übersetze ich den und die weiteren Dialoge zum größten Teil ins Hochdeutsche.>


»Gern geschehen. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Schließlich haben wir schon März und …«

»Nee, nee, da ist noch viel Zeit.

Die Butt-Tage sind doch erst im Mai.

Ich freue mich, dass Sie überhaupt anrufen – und Interesse haben?«

»Ja, natürlich, für einen gut gebratenen Fisch fahre ich doch gerne ein paar Kilometer. Obwohl ich mich wundere, dass Sie ausgerechnet diese ziemlich blutige Geschichte…

Und außerdem ist das doch nur das Ergebnis aus der Übung in einer Schreibwerkstatt gewesen, eine Assoziationskette nach einem vorgegebenen Anfangssatz und…«

»Ach was. Nee. Machen sie sich da mal keine Sorgen, da haben wir schon ganz andere Sachen gelesen. Wir freuen uns jedenfalls, wenn Sie uns Ihre Geschichte vorlesen könnten. Und noch ein paar andere Geschichten dazu. Das wäre sicher ein großes Ereignis für alle Holmer.«

Solche Schmeicheleien braucht der Mensch. Also ich jedenfalls. Ich nahm sie gerne an und sagte zu, was der Wirt nicht in die Sprechmuschel, sondern in seine direkte Umgebung mit einem »Stine, he kümmt!« feierte.

Leider, wieder mich ansprechend, könne man mir keine Gage zahlen. Dafür dürfe ich aber so viel essen und trinken, wie ich vertrüge und die Unterkunft sei ebenfalls Sache meiner Gastgeber. Da die Straßenkarten sehr ungenau seien und ich bitte keinesfalls meinem Navi vertrauen solle, denn aufgrund eines bis vor ein paar Jahren in der näheren Umgebung betriebenen militärischen Sperrbezirks sei kein GPS-Empfang möglich, versprach Jessen, mir schnellstmöglich eine Wegbeschreibung per Post zukommen zu lassen.

Ich gab ihm meine Anschrift durch und wir verblieben mit einem beiderseitigen »Tschüühüüß!«

Jetzt musste ich erst einmal durchatmen. Worauf ließ ich mich ein? Dieses Norderschauholm schien am Ende der Welt zu liegen. Keiner Landkarte, keinem Navigationsgerät war zu trauen und zum Internet musste man zig Kilometer fahren. Meine dennoch entstandene Vorfreude nährte sich vor allem aus der Spannung.

Bloß keinem Navi vertrauen

Zwei Tage später brachte der Briefträger die Wegbeschreibung. Diese war eindeutig auf einer alten Schreibmaschine getippt recht förmlich verfasst. Sie begann mit

Lieber Herr Jürgensen,

der Lesestammtisch und alle Norderschauholmer freuen sich auf die erste Lesung eines Gastes. Unser Dorf ist ein ganz besonderes mit einer ganz besonderen Geschichte. Sicher werden Sie während Ihres Aufenthaltes anlässlich unserer Tage des Butts viel davon erfahren. Wir hoffen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen werden.

Es folgte der erneute Hinweis, bloß keiner Karte und keinem Navi zu vertrauen, sondern allein der nun folgenden Beschreibung. Hamburg, über die A7 bis Schleswig, das waren für mich vertraute Zwischenstationen, die Abfahrt Schuby ein fester Begriff. Die eine oder andere angegebenen Bundes- und Landstraße kannte ich auch noch, doch dann folgten einige Orte, an die im mich zumindest nicht erinnern konnte.

Von Westerbrarup ging es rechts ab in Richtung Oersby, aber ein Kilometer vor dem Ortseingang sollte ich links nach Angelholt abbiegen. Zwei Kilometer hinter Angelholt musste ich auf ein verwittertes und viel zu kleines Schild am rechten Straßenrand achten, das auf den fünf Kilometer entfernten Badestrand von Noorgaardhaff hinwies. Kurz vor Noorgaardhaff, also nach ungefähr viereinhalb Kilometern, direkt hinter dem verlassenen Campingplatz, hatte ich einem Schild nach Links zu folgen. Seltsamerweise wies es mich ins nur sechs Kilometer entfernte Schleswig. Schleswig? Ja, so beruhigte mich der Autor der Wegbeschreibung, das sei zufällig ein Ort gleichen Namens. Das käme schon mal vor. Laut Wikipedia gibt es allein in Deutschland den Ort Neustadt in 21facher Ausführung. Wie auch immer. Schleswig, so stellte es sich heraus, war ein für die Gegend typischer Dreiseithof und einige eng an der Straße gelegenen Gesindehäuser, mehr nicht. Hinter dem letzten Gesindehaus, an dem ein ganz offensichtlich erst vor einigen Tagen aufgemalter Schriftzug Norderschauholz-Norderschauholm mit einem dicken Pfeil unterstrichen war, wurde die Straße zu einem Feldweg. Da ich vorgewarnt war, machten mir die Schlaglöcher nur aufgrund der inzwischen hereinbrechenden Dunkelheit leichte Sorgen. Alle bisherigen Abzweigungen hatte ich mit Leichtigkeit gefunden. Wozu sollte ich mir also größere Sorgen machen? Aus dem Feldweg wurde schließlich ein Waldweg und aus dem Waldweg ein steiniger Küstenpfad entlang eines mannshohen Deichs. Links der jetzt eingezäunte Wald – Norderschauholz – vermutlich das ehemalige militärische Sperrgebiet – und rechts die Ostsee. In der Ferne sah ich den kreisenden Lichtkegel des Leuchtturms von Falshöft. Oder Schleimünde? Egal, dort, wenn es sich nicht doch um einen anderen Leuchtturm handeln sollte, würde ich mich wieder auskennen. Hier jedoch war ich fremd. Es konnte also nicht mehr weit sein. Wie zur Bestätigung machte der Weg, als der Scheinwerfer eine Gruppe riesiger Findlinge eines Hünengrabs streifte, einen Schlenker über den Deich, wurde zur einer schmalen, immerhin asphaltierten Straße, zu einer auf beiden Seiten vom Wasser umspülten Allee.

Nach ungefähr einhundert Metern ersetzten nach und nach immer mehr akkurat von Knicks eingefasste Felder und Weiden das Meer und ich erkannte endlich das Ortsschild. Dem Asphalt folgte das Kopfsteinpflaster einer Dorfstraße. Nur vom Dorf war nichts zusehen. Das erste Gebäude war ein prächtiger Dreiseithof, dem ein Buchenwäldchen folgte. Endlich zeigte sich das Dorf von recht trüben Laternen beleuchtet.

Schon das erste Gebäude linker Hand war der Krug, wie immer in dieser Gegend von einem Stallgebäude begleitet. »Sie haben ihr Ziel erreicht« sagte ich anstelle meines Navis. Eigentlich. Denn obgleich ich vor dem Eingang der Wirtschaft hätte parken können, wollte ich den Ort kurz »erfahren«, seine Größe oder Kleine einschätzen.

Meine Zählung kam auf fünf Wohnhäuser auf beiden Seiten der Dorfstraße, ohne Vorgärten eng an die schmalen Bürgersteige gedrängt, mit Utluchten, die vom Wohnzimmer aus den Blick in alle Richtungen der Straße gewährten, bis sie als Platz vor einem recht stattlichen Gebäude endete. Über seinem Portal wies ein verschnörkelter Schriftzug es als Rathaus aus. Neben dem Rathaus verschwanden zwei Wege in der Dunkelheit. Auf die Hauswand gemalt, zeigte rechts ein Schild zum »Kirchhof« und links eines zum »Strand«, aber ich verschob weitere Erkundungen auf den nächsten Tag, wendete den Wagen und fuhr zurück zum Krug.

Der mit einigen Girlanden geschmückte Eingang deutete auf das anstehende Fest hin, denn ein goldener Butt krönte das Portal. Die Gaststube war hell erleuchtet. Dennoch standen außer meinem keine Autos mit fremden – auch keine mit einheimischen – Kennzeichen auf dem Parkplatz.

»Naja,« sagte ich mir, »die anderen Gäste kommen sicher erst morgen.«

Ich öffnete die quietschende Tür, schob den schweren Vorhang des Windfangs zur Seite, betrat die Gaststube und damit die Geschichte Norderschauholms, die eine andere als die Zeit der bisher vorgetäuschten Erinnerung beschreibt.


Weiter mit Teil 3

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© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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