Hanne Iversen

Doktor Allwissend

Der vorläufige 4. Teil der Norderschauholm-Chronik

 von Dirk Jürgensen …

Schleimünde © Jürgensen - DüsseldorfEin Mann betritt die Gaststube, noch halb im Windfang stehend blickt er sich kurz um, nimmt die Begrüßung anderer Gäste »Moin Hanne« wortlos entgegen, hebt nur andeutungsweise die rechte Hand und schlurft in schweren Stiefeln auf meinen Tisch zu.

Er dürfte so um die siebzig sein und, hätten die Jahre nicht für eine gebeugte Haltung gesorgt, würde er sicher um die zwei Meter messen. Er baut sich vor mir auf, brummelt mir ein »Moin« zu, schiebt gleich zwei Stühle vom Tisch ab und nimmt seinen viel zu bunten Rucksack vom Rücken, um ihn auf einen der Stühle zu platzieren. Hanne beugt sich kurz zum Rucksack, hält seinen gestreckten Zeigefinger mit einem »psst« kurz vor die Lippen, um dann mit der flachen Hand beruhigend zu wippen. Erst jetzt erkenne ich, dass der Kopf eines Plüschaffen aus dem nicht ganz geschlossenen Rucksack hervorlugt.

Hanne schlurft zurück zum neben dem Windfang befindlichen Garderobenständer, zieht seinen leicht speckigen Parka umständlich aus, hängt ihn mit der Kapuze an den Ständer, streicht mehrmals glättend über die Jacke, wobei dies kaum etwas bewirkt, um dann wieder meinen Tisch anzusteuern, der von nun an wohl unser Tisch sein soll. Seine Prinz-Heinrich-Mütze behält er auf.

Die Kellnerin reicht ihm ein dickes Sofakissen und bevor sich der ohne Jacke erschreckend hagere Mann setzt, legt er das Kissen auf den einen Stuhl, wendet sich noch einmal seinem Rucksack zu, öffnet den Reißverschluss ganz vorsichtig um ein größeres Stück und holt den Affen mit beiden Händen heraus – so, wie ein junger Vater unbeholfen und übervorsichtig mit einem Neugeborenen umgeht.

Bei dem Stoffaffen handelt es sich genauer gesagt um eine Äffin, denn sie trägt ein orange-grün-rotes Kleid – eine Farbkombination, die ich noch aus den Siebzigern kenne. Die Affendame darf sich auf den von ihrem Begleiter reservierten und mit dem Kissen bepolsterten Stuhl setzen, allerdings achtet Hanne peinlich darauf, dass das Kleid ordentlich sitzt und die Affenarme ihre Besitzerin sicher vor dem Umkippen schützen.

Sie ist nicht mehr die Jüngste. Ihr sichtbares Fell ist ist verfilzt, an mehreren Stellen abgewetzt und mit groben Stichen gestopft.

Wieder möchte Hannes flache Hand die Äffin beruhigen, bevor der Rucksack an die Rückenlehne gehängt und der Stuhl etwas weiter an den Tisch herangeschoben wird. Sie kann so eben über die Tischplatte schauen. Beide scheinen sich zuzunicken und endlich darf sich auch Hanne setzen. Wir bilden nun ein gleichschenkliges Dreieck an einem runden Tisch.

»So«, beginnt Hanne, »du bist also der Dichter.«

»Na, wir wollen nicht übertreiben. Ich denke, Autor wäre wohl angemessener.«
Hanne blickt etwas verstohlen zu seiner Nachbarin hinüber. »Naja, gut, schade. Aber das ist ja so ähnlich.«

Eine Pause, ein Stocken unseres jungen Gesprächs entsteht. Doch in meine Überlegung hinein, wie ich es in Gang bringen könnte, beginnt mein Gegenüber.

»Ich bin Hanne, Hanne Iversen. Wir wohnen am anderen Ende. Schon immer. Das heißt, wenn wir nicht verreisen.« Ein sanftes Lächeln geht in Richtung Äffin.
Sie bestätigt die Aussage stillschweigend.

»Das ist ja interessant. Ich heiße übrigens Dirk Jürgensen, Dirk eben. Und ich komme aus Düsseldorf. Herr … ehm … Hanne, Jesper hat mich eingeladen, um ein paar von meinen Texten vorzutragen.«

»Ik weet. – Jürnsn?« Er spricht meinen Namen so aus, wie man es hier immer tut, wie im Dänischen, einer Sprache, die zu großen Teilen aus dem Weglassen besteht und Menschen, die diese Sprache beherrschen, die Worte dennoch vollständig und richtig aufschreiben:

»Jürnsn? Dann bist Du aber eigentlich von hier?«

»Naja, meine Eltern sind Angeliter, aus Falshöft und Gelting. Wenn man so will, stammen sie von hier, sind aber in den Fünfzigern der Arbeit wegen ins Rheinland gezogen und da geblieben. Ihr Plattdütsch haben sie aber nie verlernt.«

»Ja, das gab ja nichts im Norden. Mehr Flüchtlinge aus‘m Osten als Einheimische und viel Landwirtschaft, büschen Fischerei und sonst nichts. Obwohl. Wir hier auf‘m Holm… wir können uns nicht beschweren. Haben in jedem Schlamassel immer gut gelebt. Keiner kennt uns, keiner stört uns, keiner will uns ans Leder. Sogar die Nazis haben uns in Ruhe gelassen. Meistens.«

Hanne wird richtig gesprächig.

»Norderschauholm hat schon eine besondere Lage, das ist mir auch aufgefallen. Und ich finde es so erstaunlich, dass es mir so unbekannt geblieben ist, obwohl ich in den Sommerferien so oft mit meinem Vater Radtouren durch die ganze Gegend unternommen habe.«

»So is dat wohl.«

»Und macht mich neugierig.«

»Bist ja ein büschen hier und ich mach den Fremdenführer. Und die …« Hanne zeigt auf den Stammtisch.

»… die meinen immer, ich wär Doktor Allwissend. Jedenfalls was den Holm betrifft.«

»Ich freue mich drauf. Aber ich fürchte, dass ich heute Abend nicht mehr so richtig aufnahmefähig bin. Die Anreise war doch ziemlich lang und das Essen macht mich jetzt ganz schön träge.«

»Allens klor. Denn geh‘n wir mal. Ich zeig Dir die Unterkunft.«

»Oh, ich dachte der Krug hätte ein Fremdenzimmer für mich?«

»Nö, das nicht so richtig. Wir haben uns gedacht, das Haus vom Dichter wäre besser. Steht ja leer und da haben wir das eben schön gemacht. Neues Bettzeuch und so.«

Hanne öffnet seinen Rucksack, greift die Äffin behutsam mit beiden Händen und schiebt sie mit großer Routine hinein. Er holt seinen Parka, nimmt ihn unter den einen Arm und den Rucksack in die andere Hand.

»Wir können Dein Auto nehmen. – Keine Sorge, Alkoholkontrollen gibt das hier nicht.«

»Das wollen wir mal hoffen.«

Hanne platziert den Rucksack samt seiner Begleiterin auf dem Rücksitz, schnallt ihn vorsichtig an und ich bedaure fast das Fehlen eines Kindersitzes.
Die Biere haben ihre Wirkung nicht verfehlt und das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße in weiche Kissen verwandelt.

Links am Rathaus vorbei, dem Schild nach in Richtung Strand, geht es in bedenklicher Schieflage über einen wohl nicht ganz befestigten Weg in die Dunkelheit hinein. Die Scheinwerfer bemühen sich, die Umgebung zu beleuchten, doch endet die Helligkeit bereits kurz vor der Kühlerhaube, denn vom Meer her ist dichter Nebel aufgezogen. Alkohol macht mutig und auch mein Beifahrer äußert keine Bedenken und navigiert mich mit kurzen Anweisungen, die ich nicht durch unnötiges Nachfragen komplizierten möchte.

»Links is‘n Graben und rechts‘n Knick. Halt dich an den Knick, denn bleibst Du oben.«
Vom Knick, also von der Wallhecke, ist nichts zu sehen. Aber irgendwie bin ich wohl auf Kurs. Und vom Graben werde ich schon etwas merken … wenn es zu spät ist.

»Jetzt einfach geradeaus.«

»Pass auf, da ist der Knick zu Ende und denn kommt rechts die Bank vom Tollhus.«

»Jetzt sind wir schon am Schuppen von Fischer Olsen vorbei.«

»Nu scharf links und wieder rechts und wieder geradeaus.«

»Is büschen sandig, der Weg. Aber macht nix.«

»Nu sind wir da. Einfach stehen bleiben.«

Da, im Nirgendwo.

Wir steigen aus und erst jetzt erkenne ich eine kleines Gartentörchen. Während ich davor warte, hilft Hanne der Affendame beim Aussteigen und schnallt sich den mit ihr besetzten Rücksack auf den Rücken.
Feierlich überreicht er mir einen altertümlichen Schlüssel, schaltet eine Taschenlampe ein, öffnet die Pforte und weist mir den Weg durch einen verwilderten Vorgarten. Nach wenigen Schritten stehen wir vor einer perfekt in zwei Farben gestrichenen Haustür. Grün und weiß, wir sind schließlich nicht in Friesland.

Hanne öffnet die unverschlossene Tür und findet ohne zu suchen den Lichtschalter.

»Hast jetzt nen Schlüssel, aber abschließen tut eigentlich nich nötig.«

Anstatt mich im Haus etwas herumzuführen, dreht sich Hanne um und steht schon wieder tief gebeugt im viel zu niedrigem Türrahmen.

»Schlop Di erstmal ut. Dat Bett steit ob’n. Un zum Frühstück kommst Du einfach zum Krog, wann is egal. Jetzt bring ich erstmal Erna no hus un morgen vertell ik wat vom Holm. Tühüss.«

Ehe ich einen Dank herausbringe und ich wieder im Vorgarten stehe, ist Hanne mit seiner Erna im Nebel verschwunden.
Immerhin kenne ich jetzt ihren Namen.

Da ich für eine weitere Konversation ohnehin zu müde bin, kommt mir Hannes plötzlicher Abschied sogar zurecht.
Ich hole noch schnell die nötigsten Sachen aus dem Kofferraum, das Häuschen macht einen gemütlichen Eindruck, könnte fast einem Heimatmuseum als Vorlage für das späte neunzehnte oder das frühe zwanzigste Jahrhundert dienen, besteige die steile Treppe und finde in einer Ecke ein sorgfältig gemachtes Bett und am Fenster, das ohne Nebel sicher einen herrlichen Blick auf die Ostsee bietet, einen kleinen Schreibtisch mit einer alten Schreibmaschine darauf.

Ich beschließe, mir das Haus des Dichters morgen genauer anzusehen und lasse mich müde von der Fahrt und den abendlichen Bieren in das für meinen Rücken viel zu weiche Bett fallen.


Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Weiter mit Teil 5


© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

image_print