Dörpshistorie

Der vorläufige 5. Teil der Norderschauholm-Chronik

 von Dirk Jürgensen …

Wildrose © Jürgensen - DüsseldorfEs klopft an der Tür. Es ist Hanne.

»Moin, heude Dörpshistorie?«

»Moin, gern«, kriege ich eine noch kürzere Begrüßungsformel inklusive bestätigender Willenserklärung hin. Der Norden ist so herrlich klar.

Ich ziehe mir schnell die Schuhe an und folge meinem Fremdenführer wortlos in Richtung Strand. Hanne trägt wieder seinen knallbunten Rucksack, doch zu meiner Verwunderung schaut kein Affenkopf heraus. Ich wage nicht danach zu fragen, aber während wir uns wenige Meter von der Wasserkante entfernt jeder auf einen Findling setzen, der genau an den richtigen Stellen anatomisch gerundet ist und Hanne seinen Rucksack laut klüternd absetzt hat, kommt er selber mit der Erklärung heraus. Er habe sich heute extra freigenommen, um mir ohne weibliche Ablenkung oder eine zu diskutierende andre Sichtweise von der Geschichte Norderschauholms erzählen zu können, denn das sei ganz wichtig, um die Leute hier zu verstehen.

Das Klütern im Rucksacks verstärkt sich, als Hanne mir daraus die unterste, weil kälteste Bierflasche reicht, eine weitere für sich in den Sand neben den Findling steckt und die restlichen Buddeln zur Kühlung so in den Kies des Uferwassers legt, dass sich die stille aber gierige Ostsee den Schatz nicht ins tiefere Wasser holen und für immer verschwinden lassen kann. Nach einigen geduldigen Korrekturen ist er mit der Einlagerung der Getränke zufrieden und setzt sich neben mich auf seinen Stein.

Stille tritt ein.

Mir scheint, das vereinzelte Krächzen irgendwelcher Seevögel und des Glucksen der schwachen Dünung diene allein der Intensivierung dieser Stille. Vier Augen blicken parallel zum Horziont, dessen Konturen mit sinkender Sonne immer deutlicher werden. Stumme Ausschau, bis meine Frage, ob das da hinten Langeland oder Aerö sei, denn da käme ich immer durcheinander und Alsen könne es schließlich auf keinen Fall sein, die Stille mit einem Hauruck, den man meinem Aufwachsen im Rheinland zuschreiben muss, unterbricht.

Hanne antwortet mit einem »Jau, so is dat wohl«, auf alle Fragen dieser Welt, nur nicht auf meine, deren Beantwortung schließlich auch gar nicht wichtig war. Wozu gibt es denn Land- und Seekarten? Also öffnen wir die Flaschen mit einem beinahe synchronen Ploppen, wie es einer Fernsehwerbung entnommen sein könnte, stoßen an und nehmen einen kräftigen Schluck aus den viel zu kleinen Flaschen.

Hanne macht »Pffffff«, als müsse er überschüssige Kohlensäure ablassen oder einfach nur etwas Zeit zur Suche nach einer geeigneten Einleitung gewinnen. Tatsächlich dauert es noch einen zweiten und einen dritten Schluck, also den Inhalt einer Flasche lang, bis er beginnt. Und da Hannes sehr plattdeutsche Erzählung in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen vom Holen des vom Salzwasser kühl gehaltenen Bieres unterbrochen wird, versuche ich im Folgenen mit einer einigermaßen verständlichen hochdeutschen Zusammenfassung, wobei mir meine Erinnerung aufgrund der alkoholischen Begleitung durchaus die eine oder andere Falle stellen kann:

Norderschauholm in alten Zeiten – Dörpshistorie von der Steinzeit an

Unklar bleibt, wie alt diese Zeiten sind oder waren, von denen mir Hanne erzählt, denn er lässt Jahreszahlen oder bekannte zeitgleiche Ereignisse aus Unkenntnis, oder weil er sie für unbedeutend und vom Inhalt ablenkend hält, weg. Wenn ich hier dennoch Jahreszahlen verwende, sind es im Nachhinein von mir recherchierte oder als passend vermutete, um eine ungefähre Einordnung der Ereignisse zu ermöglichen. Ebenso überlässt Hanne mir die Erklärung des Namens seines Heimatortes, was ich für nicht unwichtig halte:

Es handelt sich bei Norderschauholm um eine für die in diese Gegend typische zusammengesetzte Ortsbeschreibung, die besagt, dass es sich um einen nördlichen (Norder-) Wald (-schau- stammt nicht von schauen, sondern vom dänischen skov, also Wald) auf einer Insel (-holm) handelt.

Norderschauholm heißt also nördliche Waldinsel.

Die lange vom Festland getrennte Insel des heutigen Norderschauholm war schon vor ungefähr fünftausend Jahren in der Jungsteinzeit besiedelt. In dem namensgebenden Eichenwäldchen an der Spitze der heutigen Halbinsel befindet sich, wie um das zu beweisen, ein imposantes, teilweise noch unter einem Erdhügel verborgenes Hünengrab. Im Heimatmuseum sind einige gut erhaltene Speerspitzen aus Feuerstein zu bewundern. Auf diesen frühgeschichtlichen Teil ist Hanne im eifrigen Selbststudium gekommen. Die letzte Expertise eines – naja – Wissenschaftlers soll in einem Archiv des Schleswiger Doms liegen, konnte jedoch nach seiner Anfrage im Jahr 2012 und einigen weiteren Nachfragen noch immer nicht aufgefunden werden, was nicht besonders relevant ist, da das Schriftstück auf das Jahr 1673 datiert sein soll, also aus einer Zeit stammt, in der man noch zu beweisen wusste, dass einzig die Mitglieder eines in der Gegend lebenden Riesengeschlechts, die Hünen also, diese mächtigen Steine stapeln konnten.

Dass die Wikinger die Insel oder den schmalen Sund zwischen ihr und dem Festland als Zwischenstation nutzten, bevor sie in die Schlei zu ihrer Handelsmetropole Haitabu beim heutigen Schleswig schipperten, ist aufgrund ihrer Lage sehr wahrscheinlich, von den Spuren einer Siedlung kann Hanne allerdings nichts berichten.

Vom Mittelalter bis in die Neuzeit war die Geschichte Schleswig-Holsteins von der Leibeigenschaft geprägt. Die wenigen Einwohner des Holms blieben davon weitestgehend verschont, denn es war den jeweiligen Fürsten und Gutsbesitzern zu aufwändig, weil wenig ergiebig, sich auf dieser abgelegenen Insel um das Eintreiben der viel zu armseligen Fronleistungen zu kümmern. So hatte der Holm das Glück Jahrhundert für Jahrhundert in Ruhe gelassen zu werden, duldete ab und an einen dänischen oder nach einer der zahlreichen Grenzverschiebungen auch preußischen Kundschafter, der, gut verpflegt und gerne betrunken, von hier die strategisch wichtige dänische Südsee zu beobachten hatte und meistens nichts zu melden wusste. In der kleinen Dorfschule wurde unter deutschem Kaiser deutsch und unter dem dänischen König dänisch gelehrt. Die große Politik interessierte Generationen von Holmern nur am Rande. Nur, wenn es einen jungen Menschen einmal in die Ferne trieb, hatte man zu wissen, ob man in diesem Jahr als Däne oder Deutscher galt, ob Dänisch, Deutsch oder Plattdeutsch zu sprechen war. Ab und an brachten Flüchtlinge, vertrieben von den Kriegen, Hungersnöten und Flutkatastrophen Nachrichten aus der weiten Welt. Wenige blieben, die meisten gingen bald wieder fort, viele ließen immerhin ihr Erbgut zurück. Allein dieser zuletzt genannte Aspekt war den Norderschauholmern aller Jahrhunderte ein Anlass zur Gastfreundschaft.

In den langen Jahren zwischen 1350 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wiederholten sich im schleswiger und holsteiner Land an der See die Pestepidemien. Der Trennung vom Festland und dem tiefen und daher sauberen Brunnen mitten auf der Insel sei es gedankt, gelangte diese Krankheit nie auf den Holm. Doch als im Zuge der Hilflosigkeit in der Suche nach Sündenböcken die Hexenprozesse auch zwischen Flensburg und Schleswig immer häufiger wurden, bekam man eines Tages auch auf der Insel der Glückseligen etwas davon mit, was die Krankheit und die Unwissenheit aus den Menschen machte.

Entenhausen

Während die abenteuerliche Geschichte des Hexengerichts recht gut datiert werden kann, gelingt mir das bei dem gesellschaftlichen Modell, das mir Hanne vorstellt, gar nicht. Er sagt, es sei »in ganz, ganz ole Tiden« für Generationen von Holmern in voller Konsequenz gültig gewesen. Es muss im frühen Mittelalter oder noch früher existiert haben, als sich das Christentum hier im Norden noch nicht durchsetzen konnte. Spätestens nach der Geschichte der geretteten Weberin und ihrem Sohn konnte es nicht mehr glaubhaft funktioniert haben. Es handelte sich um ein revolutionäres System, das heutzutage – Hanne sagt: leider – nicht mehr durchzusetzen ist, aber Selbstverständnis wie Zusammenhalt der Insulaner unterschwellig bis in unsere Tage bestimmt.

Hannes Erklärungen bleiben für mich lückenhaft und an einigen Stellen wenig schlüssig bis wirr. Mein Nachfragen weist er vehement ab, zu lange sei das alles her und zu viele Seiten des im Rathaus liegenden Geburtenbuchs seien verschwunden, um einen wirklichen Beweis vorlegen zu können. Hanne versichert mir, dass die seit Jahrhunderten mündlich überlieferten Erzählungen über die Norderschauholmer Familienstruktur zumindest von der Idee her der Wahrheit entsprechen.

Ich versuche eine Zusammenfassung von der Sage einer gelebten Utopie:

Eine Familie in Norderschauholm ist mit einer Entenhausens vergleichbar, wie wir sie von Frau Dr. Elisabeth Fuchs kennen. Der Vergleich mag lächerlich klingen, hilft aber der Beschreibung ungemein. Kinder kennen nur Tanten und Onkel, von denen sie kurz nach der Geburt adoptiert wurden. Kein Kind kennt seine Eltern oder Großeltern, wenn wir einmal Oma Duck aus der Betrachtung herauslassen. Erklären wir sie uns als eine Art Großtante, die nur des Alters wegen den Kosenamen Oma trägt, passt es wieder. Zurück nach Norderschauholm. Dieses Entenhausen-Modell wird in jener fernen Vergangenheit vermutlich eingeführt, da man all der an der Küste so häufigen Trauer etwas entgegensetzen will, wenn wieder einmal eine Sturmflut viel zu viele Kinder zu Waisen macht, denn an die Ursache für die Zahl der Todesopfer kommt man schließlich nicht heran, die Kunst des effizienten Deichbaus steckt noch in ihren Anfängen. Das Geburtenbuch, in dem die tatsächlichen Kindschaftsverhältnisse aufgezeichnet sind, wird von der jeweils gerade amtierenden Hebamme an einem sicheren Ort versteckt. Immer wieder schlägt sie dort nach, wenn sich wieder einmal eine Geschwisterehe anzubahnen scheint. Überhaupt werden Kinder, die aus einer “externen“ Beziehung stammen, als besonders Erstrebenswert angesehen. Die werdenden Eltern freuen sich zwar auf ihren wie auch immer zustandegekommenen Nachwuchs, sind aber ebenso glücklich, wenn sie diesen bei einem anderen Paar, manchmal sogar bei einer Einzelperson aufwachsen sehen. Aufgrund der gesellschaftlichen Akzeptanz dieses Modells sind Eifersucht oder Sehnsucht nach dem eigenen Kind unbekannt, schließlich gilt, dass es dem Kind nur gut gehen muss. Niemals käme jemand auf die Idee, die Adoption zu verweigern oder den Kindern später einmal ihre leiblichen Eltern zu verraten. Zu schlüssig, vor allem zu einvernehmlich ist das System. Latent besteht natürlich die Gefahr den Überblick zu verlieren, die Hebamme muss als absolute Vertrauensperson angesehen werden, die nichts verrät, zumal oft Kinder – auch aufgrund der Neunmonatsfrist nach dem Buttfest, das demnach also auf eine sehr lange und fruchtbare Tradition zurückblicken kann – beinahe gleichzeitig geboren werden und sich damit das Problem mit dem Stillen für die Tante und ihrem getauschten Kind von selber löst.

Zuzug ist erwünscht, denn die kleine verhältnismäßig geschlossene Gesellschaft kennt das Problem der Inzucht. Nur Wenige kommen für längere Zeit, siedeln sich an, manche bleiben als Besucher des jährlichen Buttfestes im Frühjahr nur wenige Tage oder gar Stunden. Wenn Letztere nach dieser kurzen Zeit den Holm verlassen, lassen sie in nicht wenigen Fällen ihr Erbgut zurück. Manche Kinder ziehen fort und führen woanders ein ganz normales Familienleben. Eines, wie es eben für die Festländer als normal gilt. Ob es ein glücklicheres Leben als auf dem Holm ist, steht, wie diese Geschichte, nirgends geschrieben.

Das Rathaus

Bau des Rathauses um 1860. Es wurde ein repräsentativer Bau, den die dänische Verwaltung in ihrer Enklave errichten lässt, um den Deutschen die Vorteile dänischer Staatszugehörigkeit sichtbar zu machen. Anstelle des hölzernen Versammlungshauses an der höchsten Stelle des Dorfes, ist es aus Stein und mit festem Fundament errichtet. Der Ratssaal wird gleichzeitig als Schulklasse der neuen Dorfschule verwendet. Morgens Schule, abends Ratssitzungen, die praktischerweise nach wenigen eher drögen Veranstaltungen wieder zurück in den Krug verlegt werden.


Hier bricht mein Bericht über die Dorfhistorie vorerst ab. Es liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor mir, denn an ein einige wichtige historische Ankerpunkte möchte möchte ich die Geschichte Norderschauholms noch festmachen. Beispielhaft sein da die Sturmflut von 1872 zu nennen, die damals in dieser sonst eher von Flutkatastrophen verschonten Küste Angelns zahlreiche Opfer zählte, und die Zeit des Ersten und die des Zweiten Weltkrieges. Eine Vorstellung, was sich in jenen Zeiten abgespielt haben könnte und wie ich diese markanten Ereignisse mit den Dorfbewohnern verknüpfen kann, habe ich bereits, ausformulieren konnte ich meine Ideen allerdings noch nicht.

So ist das eben, wenn man seine Arbeit an einer Chronik lange vor ihrer Fertigstellung öffentlich macht. Sie weist Lücken auf und der hier dokumentierte Zwischenstand hält sich nicht immer an der chronologischen Reihenfolge der erdachten und längst nicht bis zum Ende erzählten Geschichte. Da meine Chronik in großen Teilen eine Ansammlung von Geschichten werden soll, dürften die Lücken vielleicht mich mehr als Sie, liebe Leserinnen und Leser, stören.


Weiter mit Teil 6

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

image_print