Im Dichterhus I

Ein leeres Blatt Papier

Der vorläufige 7. Teil der Norderschauholm-Chronik

  von Dirk Jürgensen …

Haus in Angeln © Jürgensen - Düsseldorf

Hier, liebe Leserinnen und Leser, zeigt es sich, dass meine derzeit verwendete Nummernfolge tatsächlich nur ein vorläufige sein kann. Chronologisch ist dieser Teil kurz nach dem vierten und mit etwas Abstand zum fünften anzusiedeln. Nur ist es eben so, dass die Chronologie des Schreibens nicht immer die der sich im Laufe der Zeit herausbildenden Logik einer endgültigen Geschichtenfolge ist. Da aber das Verständnis in den meisten Fällen nicht darunter leiden dürfte, werde ich vermeiden, die an dieser Stelle veröffentlichten Rohtexte immer wieder neu zu sortieren. Diese Arbeit werde ich erst dann angehen, wenn mir die Norderschauholmer zuflüstern, es sei jetzt endlich genug erzählt. Dieser Zeitpunkt ist, wie mir scheint, noch längst nicht erreicht. Doch lesen Sie selbst.


Nach langen Autofahrten kommt es vor, dass ich in einem nicht besonders tiefen Schlaf, träumend die eine oder andere Teilstrecke noch einmal fahre. In dieser ersten Nacht im Haus des Dichters Brodersen habe ich traumlos tief und fest einfach nur geschlafen und erwache, trotz der Biere des Vorabends und anders als sonst nach einer ersten Nacht in einem fremden Bett, langsam, doch mit einer Vorfreude auf den Tag erholt und frisch.

Vom Bett aus richtet sich mein erster klarer Blick unweigerlich zum Schreibplatz des Dichters.

Beneidenswert.

Ein kleiner Schreibtisch in einer Dachgaube mit einem ausreichend großen sechsteiligen Doppelfenster mit Blick auf die Ostsee. Einen besseren Platz für das freie Schweben der Gedanken, für das grenzenlose Formulieren und Fabulieren kann es nicht geben, jedenfalls für das Schreiben, bei dem sich der Autor allein mit seinem Text fühlen möchte, unkontrolliert und ohne Ablenkung. Selbst Schaffenspausen, Lücken in der Kreativität müssen hier zum Genuss werden, verschenkte Zeit zum Geschenk.

Ich stehe auf und schaue aufs Meer.

Fast greifbar kreuzen Segelschiffe, die einen in Richtung Flensburger Förde, die anderen in Richtung Kiel. Vielleicht steht demnächst die Kieler Woche an, oder ein Hafenfest da oder dort. So könnte es ausgesehen haben, als die Förde noch nach Alkohol roch, als die Frachtsegler den Rohrum von den Jungferninseln nach Flensburg brachten, um ihn dort in über zweihundert Häusern in trinkbarem Rum zu verwandeln.

Zwischen den Doppelfenstern, in einer winzigen sonnig-trockenen Klimazone wuchern zwei Kakteen mit wuscheligen weißen Haaren über ihre Topfkanten hinweg. Genau solche besaß auch meine Großmutter. Sie standen in den Fenstern des Schlafzimmers, das wir in den Sommerferien nutzten. Immer verfingen sich die Gardinen in ihren Widerhaken, wenn wir die Fenster zum Lüften öffneten.

Einmal im Jahr, es musste ein kräftiger Sommerregen zu erwarten sein, stellte Oma die Kakteen in den Garten, ließ sie nassregnen. Dabei wurden sie gar nicht nass. Das Wasser perlte von ihrem dichten Greisenhaar ab, nur wenige Tropfen verfingen sich darin und die Wurzeln mussten hoffen, dass der Boden unter den Töpfen etwas Feuchtigkeit auffangen konnte. Abends wurden die Kakteen wieder auf ihre Fensterbank gestellt und im Laufe der weiteren Monate des Jahres höchstens beim Lüften oder Fensterputzen aufgrund ihrer Widerborstigkeit beachtet. Kakteen waren mir als Kind schon sympathisch.

Sie mögen es einfach, die meiste Zeit in Ruhe gelassen zu werden.

Für das, was andere Pflanzen als Vernachlässigung, als Rücksichtslosigkeit empfinden, wofür sie uns dann mit Verkümmern bestrafen, bedanken sich Kakteen mit ihrer Blütenpracht.

Ich zwänge mich unbeholfen zwischen Schreibtisch und Fenster, öffne es und bleibe, während ich die Windschutzhaken in ihre Ösen einhänge, mit meinen Ärmeln selbstverständlich an den Widerhaken eines der Kakteen hängen.

Es ist egal, wie geschickt man sich anstellt, sie finden einen immer.

Ich befreie mich, ohne den Kaktus unnötig stark zu verletzen, setze mich auf den Stuhl vor dem Sekretär, hole tief Luft.

Hier muss er also gesessen haben, der Dichter.

Meine Arme messen flach hin und her wischend die leere Schreibfläche vor mir aus, so, als wollte ich den Dichterplatz für mich vereinnahmen.

Eine Schreibmaschine, etwas zurückgeschoben, von einen weißen, mit einem Spruch bestickten Küchentuch verdeckt.

»De Köksch un de Katt warn jümmers satt.« (»Die Köchin und die Katze werden immer satt.«)

Ich muss Hanne unbedingt über den Nachlass ausfragen, muss etwas von ihm lesen. Mir fällt auf, dass ich noch gar nicht nach dem Namen des Dichters gefragt habe. Immer wurde nur vom Dichter gesprochen. Muss man ihn kennen und sollte mir meine Unwissenheit peinlich sein? Ach was, Heimatdichter kennt man doch meistens nur in einem kleinen Umkreis.

Unten steht ein großes Bücherregal. Sicher wird dort etwas von ihm zu finden sein und wenn nicht dort, dann im Heimatmuseum. Auch da ist Hanne der richtige Mann.

Zunächst lenke ich meine Neugier auf diesen Schreibtisch. Seine zwei Schubladen sind voll mit unbeschriebenem Papier, keine Stifte.

Schubladen. »Schiebladen«, genau, »Schiebladen« sagt man hier. So, wie man in einem norddeutschen Garten oder einer Baustelle eine Schiebkarre schiebt und keine Schubkarre schubt. Ich erinnere mich an meine ersten Schuljahre, als ich mit frisch gewonnenem Wissen nach Hause kam und ab und zu versuchte meine ins Rheinland migrierten Eltern zu korrigieren, weil doch das, was man in der Schule lernt, richtig sein müsse.

Meine Eltern widersprachen mir nicht, blieben aber dennoch bei ihren Versionen.

Irgendwann hörte ich mit den altklugen Verbesserungen auf und sah ein, dass der Unterschied zwischen richtig und falsch manchmal völlig unerheblich ist und sich mit einem Abstand von sechshundert Kilometern von alleine aufhebt. Heute weiß ich, dass solche Differenzen auch winzig sein können, nicht in Zentimetern gemessen werden, und dass erst der Unterschied, der Zweifel, das Rätseln, Forschen und Herausfinden ein Leben interessant macht.

Ich hebe das Tuch von der Schreibmaschine.

Erika, richtig altes Modell.

Immerhin schon eine Reiseschreibmaschine.

Darin eingespannt ein vergilbtes Blatt Papier.

Ein leeres Blatt Papier.


Es tut mir leid, dass ich der Geschichte in diesem Moment keinen letzten, womöglich mitten in einem entscheidenden Wort abgerissenen Satz des Dichters schenken kann, kein einziges Wort des Dichters Marquard Brodersen, das einem klassischen Cliffhanger entsprochen und erste Spekulationen ermöglicht hätte, kein Wort des Mannes dessen Name mir in der Rolle des Autors, nicht in der des Akteurs in meiner eigenen Geschichte bekannt ist. Das kommt etwas später.


Weiter mit Teil 8

Zurück zum Inhaltsverzeichis


© Dirk Jürgensen – Veröffentlichungen des Textes und der Bilder, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

image_print