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Margriet de Moor – Sturmflut auf der Lit.Cologne

Walter van Rossum lernt Niederländisch und lässt den Regen prasseln

Auf der Bühne des Museums

b2db48d5774f41cdee4930253d869e1cSie hat Witz, das ist unverkennbar. Eine agile, schlanke Frau mit roten, leuchtenden Haaren betritt gemeinsam mit ihrem Moderator, dem Literaturkritiker und Autor Walter von Rossum das Podium der Lit.Cologne im Museum Ludwig und lächelt verschmitzt, schaut offen in die Augen des erwartungsvollen Publikums. Sie ist die Bühne gewöhnt. Ihr Deutsch ist perfekt. Walter van Rossum stolpert zu Beginn seiner Vorstellung der Autorin Margriet de Moor mehrfach über die Aussprache der Bezeichnung für den Landstrich Schouwen-Duiveland, den Ort, an dem der neue Roman „Sturmflut“ spielt. Im Publikum lacht man, hätte doch kaum jemand es besser gekonnt. Margriet de Moor verbessert amüsiert. Ist doch gar nicht so schwer! Das üben wir nochmal!

Der Abend ist kurzweilig. Autorin und Moderator gelingt es meisterhaft, Langeweile erst gar nicht aufkommen zu lassen. Der Saal ist voll, ausverkauft. Vornehmlich Frauen sitzen im Publikum. Schade, eigentlich. Buch und Autorin ziehen in Bann. Da haben die nicht anwesenden Männer etwas verpasst.

Von einer besessenen Leserin

Wir erfahren, dass die 1941 in Noordwijk geborene de Moor zunächst Sängerin und Pianistin war, schließlich Kunstgeschichte studierte; dass sie las – wie eine Besessene las – bevor sie sich entschloss, es selbst einmal mit dem Schreiben zu versuchen. Mit Erfolg.  Ihr Erstling „Op de rug gezien“ (Rückenansicht) verrät bereits, sie hat Talent zum Schreiben, komponiert ihre Geschichten wie ein Musikstück. Zurückgenommene Sprache, sensitiv, gelegentlich fast emotionslos berichtet sie von Schicksalen, Einschnitten, Konfliken und Beziehungen zwischen Menschen, von Liebe, Lust und Leidenschaft. Nie ins Sentiment abgleitend, immer wahrhaftig, recherchegetreu, schockierend echt.
Den größten Erfolg, auch in Deutschland, hat sie mit „Eerst grijs dan wit dan blauw“ (Erst Grau, dann Weiß, dann Blau). Es folgen ebenso erfolgreiche Romane und Erzählungen wie „De virtuoos“ (Der Virtuose), „Kreutzersonate“ und Hertog van Egypte (Herzog von Ägypten), um nur einige zu nennen.

Es ist Margriet de Moors erste Lesung des Buches „Sturmflut“ in Deutschland. „Haben Sie eigentlich Angst vor solchen Veranstaltungen? Lampenfieber?“ fragt van Rossum. Na, Angst habe sie gehabt, als sie noch als Sängerin aufgetreten sei, lacht de Moor, das „tausendköpfige Monstrum“ habe Erwartungen gehabt und sie immer aufs Neue bestehen müssen. Das wäre auch jetzt so, aber das Buch sei fertig, daran könne man nichts mehr ändern, das Buch könne sie nicht mehr verletzen. Obschon … sie müsse zugeben, sehr aufgeregt vor dem Erscheinen gerade dieses Buches gewesen zu sein. Also einfacher sei es schon. Am Schreiben würde sie aber vor allem den Akt an sich genießen, das innerhalb der eigenen vier Wände Arbeiten, weit weg von der Öffentlichkeit. Sie fühle sich sehr wohl in der Isolation ihres Schreibzimmers. „Warum waren sie vor dem Erscheinen von „Sturmflut“ aufgeregt?“ fragt van Rossum. „Ich war mir nicht sicher, ob es gut war und habe mich sehr gefreut, als mir Leser und Kritiker – und die sind ja auch Leser – bestätigten, dass es das war,“ antwortet de Moor. „Solange ich an dem Buch arbeite, ist es meines,“ ergänzt sie,“ danach gehört es dem Leser“.

Die Ertrunkene

„Auf Niederländisch heißt das Buch De verdronkene, übersetzt Die Ertrunkene. Warum hat man im Deutschen den Titel verändert?“, will der Moderator wissen. Es gehe um die, die die tragische Sturmflut in den Niederlanden von 1953 nicht überlebt hätten, erläutert Margriet de Moor, nicht um die, die es geschafft habe. Der niederländische Titel sei also viel richtiger, als der deutsche. 1953 – so berichten Autorin und Moderator sei ein ganzer Küstenstrich im Meer versunken, Tausende von Menschen ums Leben gekommen. An eine eigentliche Gefahr hatte damals niemand geglaubt. Von offizieller Seite habe man durchaus gewusst, dass eine derartige Katastrophe theoretisch möglich sei, sie jedoch verschwiegen. Inzwischen, viel zu spät, seien Maßnahmen getroffen worden, die eine Wiederholung ausschlössen.

Worum geht es in „Sturmflut“? Zwei Schwestern tauschen die Rollen. Ein Abend, eine kleine Schwäche verändert beider Leben frapant. Anstelle von Armanda fährt Lidy an die Küste, um dort an der Geburtstagsfeier von Armandas Patenkind teilzunehmen. Armanda bleibt daheim. Sie besucht, gemeinsam mit dem Ehemann ihrer Schwester eine Party, versorgt ihr Kind, während Lidy, und das wird gleich zu Beginn des Buches nicht verschwiegen, ihrem Tod entgegen geht. Sie kommt in den Fluten, ausgelöst durch ein massives Unwetter, um. Margriet de Moor hebt die Zeit auf und spiegelt die beiden Leben der Frauen. Die drei Tage, die die einundzwanzigjährige Lidy mit ihr bis dato fremden Menschen ums Überleben kämpft, werden detailgenau und intensiv beschrieben. Parallel dazu erzählt de Moor vom langen Leben der Schwester, die Lidys Ehemann heiratet, ein ganz normales, schrecklich-schönes Dasein ihr eigen nennt, bevor sie schließlich als alte Frau im Altersheim stirbt. Dement, ihrem eigenen Tod ins Gesicht blickend, kommt sie am Ende des Buches mit der toten Lidy noch einmal ins Gespräch. Sie bleiben zeitlebens und im Sterben miteinander verbunden.

Hier, ich bin noch hier – vom Leben und Sterben

Margriet de Moor liest mit ruhiger Stimme vornehmlich aus den Passagen, die von Lidy berichten. Ein Bauernhof, kurz vor dem Einsturz, ist ihre Zuflucht. „Man lebt noch, alles, wirklich alles ist noch möglich“, unterbricht die Autorin. Und das ist das Wesentliche des Buches, wie das Publikum erfährt. Es ist vollkommen irrelevant, wie lange ein Leben dauert. Wichtig ist der Moment des Erlebens, des „Ich bin noch hier“. Diesen Satz äußert Lidy noch kurz bevor sie das Zeitliche segnet. „Hier, ich bin noch hier“. Sie spürt, sie fühlt, sie erlebt und hofft, sie hat die Spannung eines ganzen Lebens. Und – in der Tat – ist alles noch möglich – jeden Augenblick. Nicht umsonst wählt de Moor den Bruch der zeitlichen Ebenen, erzählt Lidys Leben in der gleichen Dauer der Zeit, in der sie von Armandas Fortgang berichtet.

Walter von Rossum ist unverkennbar begeistert von Margriet de Moors „Sturmflut“. Die Zuhörer können es ihm zunehmend nur gleichtun.

Je näher Lidy dem Tod komme, desto näher scheine sie bei sich, so der Moderator. Die Autorin überlegt kurz – schaut ihn an: „Ja, ja – da ist was dran!“ Parallel dazu erscheint Armandas Leben konfuser. Lidy kommt in einen Rausch und je abwesender sie ist, desto mehr mischt sie sich in Armandas Leben. Sie ist nie daraus verschwunden. Das ist eine zweite Ebene des Buches, das Spiegeln dieser beiden Leben.

Ob das etwas mit einem Schuldgefühl bei Armanda zu tun habe, fragt van Rossum. Margriet de Moor richtet sich auf und lacht amüsiert „Wissen Sie, in unserem Zeitalter muss man alles immer psychologisieren.“ Was man auch falsch oder richtig mache, das habe dann angeblich mit Müttern, Vätern oder irgendwelchen Traumata zu tun. „Das liebe ich nicht allzu sehr und versuche das zu vermeiden“, sagt sie. Es könne durchaus sein, dass hier auch Schuld mitspiele. Aber das sei von ihr nicht beabsichtigt und wenn, dann nur ganz klein. Margriet de Moor zeigt einen Abstand von zwei Zentimetern zwischen Daumen und Zeigefinger.

Zur Erheiterung des Publikums erwähnt Walter van Rossum Armandas Leidenschaft für den Ehemann der Schwester. Auch Margriet de Moor lacht und gibt zu, ja, ja, da gebe es schon ein gewisses bewußtes „Haben-wollen“ der Zurückgebliebenen, das sicher auch gelegentlich mit einem schlechten Gewissen gepaart sei. Margriet de Moor berichtet von der Entstehung der Liebesgeschichte zwischen Sjoerd und Lidy und dass aus ihr ein „moetje“ hervorging. „Sie wissen, was das ist? Ein „moetje“?“, fragt sie ins Publikum. „Ein Fisternöllchen?“, lacht van Rossum , weiß nicht gleich, worauf sie hinaus will und gebraucht eine rheinische Vokabel, die diesmal der Autorin fremd ist. Doch meint die Autorin kein „heimliches Verhältnis“, wie er und die Zuhörer erfahren, sondern das Ergebnis desselben, ein Kind, das zu damaligen Zeiten noch Anlass zu einer Muss-Heirat gab. Nun – letztendlich sei Armandas Streben, den vermeintlichen Mann ihrer Träume dann doch noch zu bekommen, eine ganz kleine Schuld, eine Menschlichkeit, etwas völlig Normales. Armanda lebt das Leben ihrer Schwester weiter, erläutert de Moor, aber das ist eher eine Möglichkeit als eine Schuld.

Die eigentliche Hauptperson sei jemand ganz anderes. Lidy, ihre Schwester, der Ehemann, die Familie und all jene, die gemeinsam mit Lidy das Schreckliche durchstünden auf der einen Seite, sicher. Aber vor allem sei einer wichtig, nämlich der Sturm. Er sei der böse, unerbittliche, meuchelmordende Protagonist des Romans.
„Wetter ist immer anwesend“, ergänzt der Moderator. „Ja,“ bestätigt die Autorin, “es ist ja auch immer da und in den Niederlanden die eigentliche Landschaft. Denken Sie nur an diesen riesigen Himmel!“. Diese unmenschliche Hauptperson soll eines deutlich machen: Dass es Dinge gibt, die einfach zu groß für uns Menschen sind. Es gibt Geschehnisse, Gewalten, denen wir uns nur ausliefern und ergeben können.

Musik und Literatur – verwandte Seelen

„Die Musik“, so fragt Walter van Rossum, „spielt bei der Entwicklung ihrer Romane aber unverkennbar eine Rolle. Ihre Romane sind sehr analytisch. Sie entwickeln Leben mittels Details.“ Margriet de Moor erklärt, das sei richtig – man müsse bis in die Details gehen, um die Realität überzeugend darzustellen und zu sagen „So hätte es sein können“. Sie recherchiere viel und zu Zeiten des Schreibens habe sie sich mit Meteorologie hervorragend ausgekannt. Inzwischen nicht mehr, sagt sie. Und alles, was sie schreibe, habe immer auch mit Musik zu tun. Musik hat etwas Analytisches, Theoretisches. Die Figuren sind oft wie musikalische Themen und schaffen jeder für sich eine Atmosphäre. Das ist dann die Tonart. Literatur und Musik seien miteinander verwandt. Aus dem Gesang habe sich jedes Instrument entwickelt. Die Stimme sei das erste aller Instrumente überhaupt. Und auch die Geschichte der Literatur habe mit der erzählenden Stimme begonnen. Zudem habe beides etwas Ästhetisches – neben der Abbildung von Realität schildere man das Fiktive, Phantastische, nur emotional fassbare.

„Wie kann man so über das Sterben schreiben?“ will van Rossum wissen. Margriet de Moor antwortet, einen guten Schriftsteller mache aus, dass er sich einleben könne in das Rätselhafte, also auch in das Sterben. Aber, so ergänzt sie, Literatur habe keinen Respekt vor dem Sterben. Kaum beginnt man das Buch aufs Neue, leben die Personen wieder.

Der Schluss des Buches – das Responsorium – ist ebenfalls dem Musikalischen entliehen und beschreibt das Zwiegespräch zwischen den Schwestern. Das Gespräch ist heiter, erläutert Margriet de Moor ihren Lesern. „ Es war ganz einfach zu schreiben, weil die sterbende und die tote Schwester in ganz lockerer Stimmung sind“. „Könnte fast Lust machen aufs Sterben,“ ergänzt Walter van Rossum lakonisch und erntet Heiterkeit. Auch Margriet de Moor lächelt.

„Was lesen Sie gerne? Was ist ihr Lieblingsbuch?“, fragt der Moderator. „Ich lese alles, wenn es keine Bücher gibt, lese ich Zeitung, Reklameschilder, Aufschriften… alles, das Buchstaben hat!“ Margriet de Moor bekennt ihre Sucht. „Bevor ich begann zu schreiben, war ich ausschließlich Leserin. Ich habe viel gelesen und erst spät angefangen, zu schreiben. Das war auch eine große Chance“, sagt sie und macht eine bedeutungsvolle Pause, bevor sie verschmitzt fortfährt: „denn schließlich habe ich eine Menge blöde Bücher, die ich früher hätte schreiben können, nicht geschrieben.“

 

Margriet de Moor, 1941 in Noordwijk geboren, studierte Klavier, Gesang und Kunstgeschichte, bevor sie ihre schriftstellerische Karriere begann und gehört zu den bedeutendsten Autoren der Niederlande.

Walter van Rossum, 1954 geboren, studierte Romanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Paris. Seit 1981 arbeitet er als freier Autor für WDR, Deutschlandfunk, Zeit, FAZ und Freitag.

Externe Links:
www.litcologne.de
www.margriet-de-moor.de
www.hanser.de/literatur
www.dtv.de
www.hoerbuch-hamburg.de
www.schrijversnet.nl/moor.htm
www.ned.univie.ac.at

Bücher/Hörbücher:

Deutsche Übersetzungen

Sturmflut, Roman, Hanser
Sturmflut, Hörbuch, gekürzte Lesung von Marlen Diekhof, HörbuchHamburg
Rückenansicht,  Erzählungen, Hanser, DTV
Erst grau, dann weiß, dann blau, Hanser, DTV
Kreutzersonate, Eine Liebesgeschichte, Hanser, DTV
Ich träume also, Erzählungen, Hanser, DTV
Herzog von Ägypten, Roman, Hanser, DTV
Doppelporträt, Drei Novellen,  DTV
Die Verabredung, Roman, Hanser, DTV
Der Virtuose, Roman, DTV

Niederländische Originalausgaben

De verdronkene, Contact
Op de rug gezien, Contact
Kreutzersonate, Contact
De virtuoos, Contact
Verzamelde verhalen, Pandora b.v.
Zee-binnen, Querido´s Uitgeverij
Hertog van Egypte, Querido´s Uitgeverij
Ik droom dus, Pandora b.v.
Eerst grijs dan wit dan blauw, Contact
De Kegelwerper, Contact

Ersterscheinungsdatum: 20.03.2006 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Foto: Marie van Bilk/Maria Jürgensen