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Jessica Durlacher – Auf der Suche nach der eigenen Identität

Emoticon – eine Lesung auf der lit.Cologne

Die Tochter

6c56cfa6e5f374ae132d715ca6158a26Überraschend schüchtern wirkt sie, die hübsche, blonde Frau, die, ihr Buch in der Hand, die Bühne betritt, erst einmal schweigt und Michael Hirz über sich erzählen lässt.
Jessica Durlacher begann als Literaturkritikerin für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, bevor sie es Vater und Mann gleichtat und sich an den Schreibtisch setzte, um ihr erstes Buch zu verfassen. 1997 erschien es und trug den Titel Het geweten (Das Gewissen). Drei Jahre später folgt De dochter (Die Tochter). Emoticon kommt in den Niederlanden im Jahre 2004 heraus und ist nun auch auf Deutsch im Diogenesverlag zu haben.

Oft setzt sich Jessica Durlacher mit dem Judentum auseinander. Ihr Vater, Gerhard Durlacher, kehrte als einziger Überlebender aus dem KZ zurück und verarbeitete seine Erlebnisse erst sehr spät in Büchern und in seiner Arbeit als Soziologe. Das Verhältnis zum Vater ist der Autorin ein wesentliches. Unverkennbar tauchen ihre Erlebnisse, Emotionen und Prägungen in ihren Werken wieder auf. Als man sie später am Abend aus dem Publikum fragen wird, warum ihre Bücher alle einen jüdischen Hintergrund haben und sie vornehmlich die jüdische Erfahrungswelt beschreibt, antwortet sie: „Ich glaube, man kann doch am Besten über das schreiben, was man kennt und erlebt hat.“ Das Biografische werde auch die zukünftigen Bücher unweigerlich bestimmen. Das neueste, noch nicht auf Deutsch erschienene Buch handele von ihrem Großvater, der Opernsänger gewesen und im KZ aufgetreten sei. Sie habe viel recherchiert, Archive gesichtet, Briefe gelesen. Es werde ein sehr persönliches Buch.

Frau und Freundin

Auf der vergangenen lit.Cologne las Jessica Durlacher gemeinsam mit ihrem Mann, dem Autor Leon de Winter. Das Paar nahm sich jeweils die Werke des anderen vor, um sie dem Publikum nahe zu bringen. Eine Lesung, an die sich Michael Hirz mit Freude zurück erinnert.
Auch Leon de Winter ist auf der diesjährigen lit.Cologne wieder mit dabei. Wenig später wird er seine Anwesenheit durch Handyklingeln kundtun und Jessica Durlacher lachend und kopfschüttelnd ihr Mobiltelefon ausschalten, nicht ohne zu bemerken: „Ich weiß nicht, warum er jetzt anruft!“ Er sei politischer als sie, meint Jessica Durlacher. Doch geht es in ihrem neuen Buch, Emoticon, untergründig auch darum. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina schwingt mit. Jedoch, so Durlacher, sei das nicht beabsichtigt. Ihr sei das kleine Leben wichtiger, nicht die große Welt. Sie schreibe lieber etwas, wo sie die Distanz behalten könne. Wobei das eine sicher nicht vom anderen zu trennen sei. Auslöser für ihr Buch, so erzählt die Autorin Michael Hirz, sei ein Zeitungsartikel gewesen. Eine Palästinenserin habe einen Israeli über das Internet kennengelernt, verführt und schließlich ermordet.

Doch wird hier zunächst von der Freundschaft zwischen zwei Frauen erzählt, Ester und Lola. Die Freundschaft läuft gelegentlich sehr unsanft ab, so bemerkt Michael Hirz zu Jessica Durlacher. „Ja,“sagt sie, „aber dennoch sind sie befreundet. Es ist in der Vergangenheit etwas passiert, etwas sehr kleines – ein Sandkorn ist ins Getriebe geraten. Und dieses Sandkorn bleibt. Es geht nicht mehr weg und führt schließlich zum Untergang dieser Freundschaft.“ Zudem sei die eine der Frauen Mutter und glückliche Hausfrau, die andere eine erfolgreich Strebende, die jedoch immer wieder grüble und zweifle. Parallel dazu konstruiert die Autorin die Geschichte von Daniel und Aisha, in der schließlich Verrat eine ebensolche Rolle spielt und Daniel zum Opfer wird.

Der Sohn

Von Daniel will Jessica Durlacher dem Publikum mehr erzählen und liest zwei Passagen aus ihrem Buch. Daniel sei ihre Lieblingsperson, sagt sie. Sie berichtet von seiner ersten Liebe, Dana. Unschuldige, schlacksige Unbeholfenheit, erste Küsse und Enttäuschungen.
Die Autorin liest zum ersten Mal aus Emoticon und entschuldigt sich für ihr durchaus ansehnliches Deutsch. „Da merke ich mal wieder, dass die Zunge ein Muskel ist! Dieser Muskel will einfach nicht so wie ich will!“ Ein wenig unterstreicht ihre Art zu lesen die Jugendlichkeit ihres Helden. Der geht schließlich nach Israel, um sich dort auf die Suche nach seinem Vater zu machen, den er nie kennengelernt hat. Dass er einen Vater hat, der als Architekt in Israel arbeitet, weiß er erst jetzt. Seine Reise in das für ihn fremde Land ist eine Suche nach der eigenen Identität. Aufgeregt schließt er sich unter falschem Namen einer Führung durch ein von seinem Vater zu erstellenden Gebäude an. Er irrt sich zunächst in der Person, als zwei fremde Männer ihm gegenüber stehen. Die Identifikation mit dem Fremden, der nicht sein Vater ist, fällt ihm leichter, als die mit dem Fremden, der es ist.

Zuviel will Jessica Durlacher dem Publikum nicht verraten. Sie sollen es selber lesen, das Buch. Doch einige Details gibt sie noch zum Besten: Emoticons seien Zeichen für Gefühle, wie sie im Internet benutzt werden. Daniel und eine junge Palästinenserin namens Aisha benutzten sie, als sie eine Konversation über dieses Medium begönnen. Aisha ist wütend. Sie ist eine Frau in Palästina und darf nicht, wie sie will, wird vom Bruder mißhandelt und leidet unter der israelischen Besatzung. Das muss schließlich jemand büßen und der wird Daniel sein. Aisha sei für die Autorin die schwierigste Figur gewesen und eine unglaublich diffizile Aufgabe, sich in den Kopf einer Mörderin hineinzuversetzen.

Fragen und Antworten

„Mein Buch ist ein sehr menschliches Buch“, sagt Jessica Durlacher und das Publikum will mehr von ihr wissen. Welche Rolle Israel für sie spiele, will man hören. „Es ist wie ein Ideal“, antwortet sie, „aber es ist auch eine Enttäuschung. Es fühlt sich nah an, aber es gibt auch viel zu kritisieren.“ Sie will, dass Israel bleibt, sagt Jessica Durlacher. „Es gibt viele, die das nicht wollen. Es ist ein sehr schwieriges Land, das sich zwischen vielen Feinden bewegt.“ Israel und die Welt um es herum seien mit nichts im Westen zu vergleichen. Es sei eine völlig andere Welt. Ihr Buch werde demnächst auch in Israel veröffentlicht und sie sei sehr gespannt auf die Reaktionen.

Wie die Figur Aisha entstanden ist, will eine andere Leserin wissen. Einmal, so erklärt die Autorin, habe es jenen Zeitungsartikel gegeben, in der vom Internetmord die Rede gewesen sei. Und dann habe sie die Frauenunterdrückung zum Thema machen wollen. Der eigentliche Streit spiele sich doch zwischen den Männern und Frauen in Palästina ab. Die Männer dort hätten Angst, den Frauen die Freiheit zu geben. Wenn Frauen frei wären, würde sich unglaublich viel ändern.

Auf die Frage, ob Jessica Durlacher Hoffnung für die Region hege, antwortet sie: „Sicher gibt es Hoffnung und Aussicht auf Veränderung, aber nicht in 10, 15 oder 20 Jahren. In hundert vielleicht.“

Ihr Vater sei im KZ gewesen, Teile ihrer Familie und der ihres Mannes dort umgekommen. „Wie ist es für sie vor diesem Hintergrund in Deutschland zu sein?“, wird sie gefragt. „Mein Vater war Deutscher“, ist ihre Antwort, „und er hat Deutschland nie als ganzes Land verurteilt. Das tue ich auch nicht. Ich sehe kaum einen Unterschied zwischen Holland und Deutschland. Was den Krieg betrifft, so redet man in Deutschland darüber, setzt sich damit auseinander. In Holland tut man das nicht.“

„Haben Sie Angst, wenn sie solche Bücher schreiben, die sich ja zum Teil auch kritisch zu bestimmten Bevölkerungsgruppen oder fundamentalistischen Bewegungen äußern?“, lautet die letzte Frage. „Ja, ab und zu haben wir Angst.“ Eine Freundin gehe nur noch mit Bodyguards aus dem Haus, weil sie mit Übergriffen rechnen müsse. Das täten sie und ihr Mann nicht. Auf bestimmten Internetseiten würde nicht besonders nett über sie und Leon de Winter geschrieben. Sie wolle dennoch kritisch sein. „Es ist doch immer wichtig, sagen zu können, was man denkt, oder?“, beendet sie den Abend.

Bücher

Deutsche Übersetzungen

Das Gewissen, Roman, Diogenes
Die Tochter, Roman, Diogenes
Emoticon, Roman, Diogenes

Niederländische Originalausgaben

Het Geweten, De Bezige Bij
De Dochter, De Bezige Bij
Emoticon, De Bezige Bij
Schrijvers, De Bezige Bij

Ersterscheinungsdatum: 20.03.2006 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Foto: Marie van Bilk/Maria Jürgensen