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Frank Westermans Ararat

Die Pilgerreise eines Ungläubigen

Mein Gott, wo bist Du?

c62f136b71067c8723211a479e27df02Frank Westerman ist ein Ungläubiger, ist er folglich auch ein Gottloser? Dass ihm Dogmen, unkritische Betrachtung und bedingungslose Unterwerfung zuwider sind, erkennt man rasch beim Lesen seines neuen Buches „Ararat“. Individualismus und Selbstverantwortung zu unterstützen, ist Frank Westerman wichtiger, als Maximen irgendwelcher Glaubensrichtungen zu folgen, die leider nur zu oft zu Gewalt und Ausgrenzung Andersdenkender führten und es bis heute noch tun. Eine außerhalb des Menschen stehende Macht oder überhaupt jemand anzuerkennen, die oder der das gegebenenfalls forderte, lehnt er ab.
Doch gibt es da noch mehr. „Am Anfang war das Wort und das Wort kam von Gott…“ und jede Menge Geschichten, die sich in einem Buch namens „Bibel“ wiederfinden. Mit ihr und diesen Geschichten ist er in einer protestantischen Familie im niederländischen Emmen aufgewachsen. Von sich selbst sagt er, dass er trotz Glaubensverlust kein Atheist sei. „‚Gott gibt es nicht‘, wird man mich nicht verkündigen hören. Die Nicht-Existenz eines höchsten Wesens ließ sich nicht beweisen, und der Dogmatismus der Atheisten schreckte mich genauso ab wie der Eifer der Gläubigen.“

Die Interaktion von Mystik und Verstand ist zentrales Thema seines spannenden und mitreißenden Buches. Seine kleine Tochter Vera stellt ihm Fragen zum Sinn und Zweck des Lebens und lässt Bilder von Himmel und Gott dabei nicht aus. Sie lassen Frank Westerman nachdenklich werden und veranlassen ihn, seine Glaubensvergangenheit genauer zu betrachten und auch bei anderen einen kritischen Blick zu riskieren. Soll er seiner Tochter Glaubenserfahrung vorenthalten? Und wenn nicht, welchen Glauben kann er als Vater überhaupt vermitteln? Woran glaubt er? Glaubt er überhaupt? Und weiter: Wie sehr wird biblische Geschichte zu Leitbildern für Menschenleben? Welches Geheimnis bergen sie? Wie beeinflussen sie Lebenswege und wie beeinflußbar sind Menschen in bestimmten Abschnitten ihres Lebens? Was hat ihn selbst in Bann gezogen und seinen Glauben als Kind geformt? Was steckt hinter diesen Geschichten? Ist die Bibel „Gottes Wort“? Oder ist sie von Menschen erdachte „Belletristik“? Und was nahm diesen Geschichten ihren ursprünglichen Zauber? Was brachte ihn dazu Religion und Kirche den Rücken zu kehren?

Vom großen Wasser am großen Berg

Warum der Ararat zum Symbol für Westermans Suche wird, ist leicht erklärt. Auf ihm strandete angeblich Noahs Arche. Er ist demnach Ausgangspunkt für die Entstehung des „neuen Menschengeschlechts“, nachdem die sündige Menschheit zuvor in den Fluten ertrank. Der Sintflutmythos und mit ihr der Ararat stehen für das Glaubensbekenntnis schlechthin.

Auf dem Ararat finden sich Bergsteiger, manch prominenter Pilger und Archesucher neben den aufgrund der Grenzsituation und strategisch offenbar wertvollen Lage einfallenden internationalen Gruppierungen unterschiedlicher Couleur. Beides steht oftmals unmittelbar in kausalem Zusammenhang. In der Türkei gelegen, ist er gleichzeitig Nationalsymbol der Armenier, die ihn früher auf ihrem Staatswappen trugen. Auch Wissenschaftler und Geologen – die Aufgeklärten – fasziniert dieser Berg.

In Westermans „Ararat“ taucht „sintflutartiges“ als tragendes Symbol für die Suche nach dem Glauben oder vielmehr seine Suche nach dem Grund für den Verlust des Glaubens immer wieder auf. So beginnt sein Buch mit einer prägenden Erfahrung als Kind während eines Urlaubs in Österreich. Mit Glück entgeht er dem Ertrinken in der Ill, als eine Schleuse geöffnet wird. An anderer Stelle im Buch muss er sich angesichts dieser Erfahrung sehr anstrengen, nicht an die Vorsehung zu glauben. In seinem Taufspruch heißt es: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen: du bist mein! Wenn Du durch Wasser gehst, will ich bei Dir sein, dass Dich die Ströme nicht ersäufen sollen.“
Gemeinsam mit seiner Frau unternimmt er eine Wattwanderung als Training für die Besteigung des Ararat und erlebt das Ansteigen des Meeres, die Flut, bewusst.
Gemeinsam mit seiner Tochter unternimmt er einen Ausflug in ein Museum, um einen Menschen zu betrachten, der Zeuge der Sintflut gewesen sein soll.

Auch Politik und den Islam bezieht Westerman in seine Betrachtungen mit ein. Einerseits weil um den Ararat herum bereits üble Kämpfe zur Verteidigung nicht nur der äußeren, sondern auch der geistigen Grenzen stattfanden. Konflikte zwischen Kurden, Türken und Armeniern haben nicht zuletzt in ihren unterschiedlichen Auffassungen im Glauben ihren Ursprung. Andererseits weil sich der Sintflutmythos auch im Islam wiederfindet und nicht minder von Belang ist.

Wissen versus Glauben

Als Frank Westerman sich verzweifelt gegen die Wassermassen der Ill wehrt, betet er inbrünstig zu Gott um seine Rettung und wird vermeintlich erhört. Dieser Gott bleibt ihm lange Zeit erhalten. Kirche, Religion und himmlischer Vater sind selbstverständlicher Bestandteil seines kindlichen Daseins. Er besucht den Konfirmationsunterricht, in dem es zur ersten Auflehnung gegen das als so unverbrüchlich geschilderte Bauwerk kommt: Frank Westerman liest das Gilgamesch-Epos. Als er feststellen muss, dass die Geschichte um Noah ihren Ursprung nicht in der Bibel hat, sondern viel älter ist und bereits hier erscheint, werden Mauern eingerissen.

Sein Glaube verabschiedete sich schleichend aus seinem Leben, wie er feststellt. An Naturwissenschaften interessiert, ernüchtern die Erkenntnisse und vertreiben jeden Ansatz von Kreationismus aus seinem Gehirn. Aufgeklärtheit und Evolutionstheorie nehmen den Platz der Religion ein.
Er kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück. Wie er eine religiöse Erfahrung während seines Unfalls in Österreich hatte, so können auch seine Eltern von Ähnlichem berichten. Sie entgingen nur knapp einer Katastrophe als sich in der Nähe ihres Wohnortes bei ´t Haantje in Drehnte während eines Bohrmanövers 1965 ein riesiges Loch auftat und Baracken, Gerät und Fahrzeuge mit sich in die Tiefe riss. Nur wenige Stunden vorher hatten sie sich just an jenem Ort befunden, an dem sich nun ein Krater befand. Niemand kam zum damaligen Zeitpunkt zu Schaden. Einige Arbeiter fanden aufgrund dieser Erfahrung jedoch einen Zugang zum Glauben. Gott habe hier seine Hände im Spiel gehabt, davon ist man überzeugt.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens

Viele Menschen, mit denen Westerman spricht oder von denen er liest und hört, darunter auch sein Großvater nehmen die Bibel wörtlich. Adam und Eva haben danach wirklich gelebt, die Arche ist wirklich auf dem Ararat gestrandet. Die Erde sei 6000 Jahre alt – man müsse lediglich simpel zurückrechnen. Expeditionen werden ausgestattet, um die Reste der Arche zu finden. Angeblich gibt es sie auch – Forscher und Regierungen legen sogar Plätze dafür fest. Menschen, wie der Astronaut James Irwin gehören zu diesen Archesuchern, für die die Bibel zum Kompass ihres Woher und Wohin geworden ist. Irwin, vor der Mondlandung kein streng gläubiger Mensch, findet erst nach Rückkehr auf die Erde zum Glauben. Frank Westerman erfährt, dass viele Astronauten, die die Erde als Kugel aus der Ferne sahen, mit dieser Erfahrung nicht umgehen konnten. Wer nicht zum Glauben fand, der griff zur Flasche oder zur Pistole und brachte sich um.
Eine solch umwälzende Erfahrung zu machen, die das eigene Gehirn nicht zu verarbeiten im Stande ist oder die irdisches Handeln schlicht unnütz oder profan erscheinen lässt, ist psychisch schwer zu bewältigen. Der Sinn des eigenen Daseins wird in Frage gestellt. So viel erreicht, Irdisches, Menschliches hinter sich gelassen … Und jetzt? Irwins Glaube also die Suche nach einem neuen Sinn im eigenen Leben? Oder ist es die Erkenntnis, dass es wirklich etwas gibt zwischen Himmel und Erde, das ein Mensch nicht erklären kann und das er deshalb Gott nennt? Warum sucht Irwin dann mit der Arche weiterhin nach einem Gottesbeweis?

Darwin versus Kreationisten

Den Schilderungen von religiösen Erfahrungen und tief verwurzeltem Glauben setzt Westerman Wissenschaft entgegen. So berichtet er über den Briefwechsel mit seinem ehemaligen Mathematiklehrer, der mitverantwortlich für Westermans Grundeinstellung ist. Eigene Meinung, Neugierde, und kritischer Rationalismus gewannen die Oberhand, verdrängten Religiosität und Mystik und wurden zum Haltepunkt seines Daseins.

Gemeinsam mit dem Geologen Salomon Kroonenberg beschäftigt er sich mit den erdgeschichtlichen Gegebenheiten am Ararat und stellt kreationisch gefärbte Pseudowissenschaft den aktuellen Forschungen gegenüber. Nach wie vor existieren Wissenschaftler, die behaupten, den Sintflutmythos beweisen zu können und Spuren für die biblische Geschichte gefunden zu haben. Kroonenberg erläutert die tatsächlichen Zusammenhänge, outet sich selbst als Atheisten und vermittelt Westerman anschaulich, wie klein der Mensch im Verhältnis zum Weltgeschehen eigentlich ist. Die Rolle, die Mensch nach der Bibel als Krone der Schöpfung einnimmt, kommt ihm nach Kroonenbergs Schilderungen in keiner Weise zu. Gewaltig und unaufhaltsam verlangt die Entwicklung der Erde und alles, was um sie herum ist, Demut und Staunen. Der Mensch spielt, so Kroonenberg, eine mehr als untergeordnete Rolle im ewigen Kreislauf des Universums. Dennoch mag sich Westerman auch dieser Einstellung nicht uneingeschränkt anschließen.

Er will es wissen. Er besteigt den Berg, Stein und damit Faktum auf der einen Seite, Symbol und Ausgangspunkt religiösen Glaubens andererseits. Er geht denselben Weg wie seine Vorgänger, wenn auch aus anderen Motiven. Er will keinen Gottesbeweis. Er will wissen, ob das, was an Rudimenten seines Glaubens noch in ihm existiert, weiterleben soll und kann oder mit dieser Reise endgültig ein Ende findet. Der Ararat konfrontiert ihn mit Menschen, die er in anderen Ausformungen, in Lektüre und Begegnung bereits kannte. Sie suchen nach der Arche, nach Erfüllung im Glauben, nach politischer Autonomie und letztendlich – egal mit welchen Mitteln – nach Sicherheit und Aufgehobensein in einem System oder einer Gruppe. Andernfalls müssten sie sich selbst ihrer Einsamkeit und Verlorenheit aussetzen, was für fast alle nur schwer erträglich wäre. Sinnlosigkeit erscheint den meisten als tödliche Bedrohung. Religion ist gleich Identität und definiert den eigenen Platz in der Welt. Westerman selbst spricht sich davon nicht frei, wenn er auch selbst von sich behauptet, nur der eigenen Einbildung zu vertrauen und damit seinen Platz in der Welt selbst bestimmen zu wollen.

An Worte glauben

Was bleibt übrig vom Glauben? Was bleibt übrig von dem, was Frank Westermans Kindheit so sehr bestimmt hat? Dies die Fragen, die ihn bei Betrachtung der bestehenden und noch kommenden Fragen seiner Tochter dazu trieben, der Sache auf den Grund zu gehen und den Ararat zu besteigen.

Es sind die Worte, mit denen er heute seinen Unterhalt bestreitet, aus denen die Geschichten bestehen, die ihm erzählt werden und die ihren Zauber auch nach Verlust des Glaubens nicht verlieren. Er baut aus dem Wort Ararat einen Wortberg, freut sich über den kreativen Sprachgebrauch seiner Tochter, die aus Ziffern „Zählbuchstaben“ macht. Und er akzeptiert, dass Menschen an das Mysterium glauben wollen, an das Unbegreifbare, nicht Erklärbare. Selbst die Wissenschaft, die von sich behauptet, den Schlüssel für Entstehen und Vergehen des Universums in Händen zu halten, ist von Menschen gemacht, umfasst nur einen Bruchteil dessen, was ist und muss regelmäßig angepasst und korrigiert werden. Religion und Wissenschaft gemein ist die Demut vor der Schönheit der Schöpfung. Für Westerman manifestiert sich diese Schönheit in Sprache. Und das ist für ihn die Erkenntnis seiner Reise. Seinen persönlichen Glauben hat er gefunden. Er spricht niemanden einen davon abweichenden ab. Denn für ihn liegt in der Absolutheit und im Dogmatismus ein größeres Problem, als im kreativen Ausfüllen des Lebens mit Sinn.

Den Gipfel des Ararat erreicht Westerman nicht. Das Mysterium bleibt, der Mensch beraubt der letztendlichen Erkenntnis oder beschenkt mit Ungewissheit. Alles erklären zu können, würde bedeuten, nichts mehr erklären zu müssen. Sinnlosigkeit jedoch bedeutete den Tod der Kreativität und der immer neuen Schöpfungsfreude des Menschen.

Wenn Westerman eines seiner Tochter und seinen Lesern zu erzählen hat, dann, dass der Glaube an sich existiert. Allein, dass er sich selbst und andere nicht einschränkt und behindert ist das eigentlich Maßgebliche.

Es bleibt zu hoffen, dass sich durch dieses Buch viele mit dem Glauben an die Schönheit des Universums und des Lebens anstecken lassen. Den Dogmen ein Ende! Danke, Frank Westerman.

Marie van Bilk empfiehlt:

Frank Westerman – Ararat – Ch. Links Verlag

Ersterscheinungsdatum: 28.08.2008 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.