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Otto nimmt’s persönlich

An Tagen wie diesen

Bis zu jenem Tag hätte jemand, der ihn hätte beschreiben sollen, die Schultern gezuckt, sich am Kopf gekratzt und geschwiegen. Er hätte vielleicht auch geäußert, nicht zu wissen, wer Otto sei, selbst wenn er ihm täglich über den Weg lief, seinen Namen kannte, knappe Floskeln wie „Guten Morgen“ mit ihm austauschte, vielleicht sogar ein kleines Gespräch mit ihm führte oder ihm skeptisch prüfende Blicke schenkte. Otto war, trotz seiner Körpergröße von beinahe zwei Metern, seiner fast schwarzen Augen und einem Oberkörper von beachtlich muskulösem Umfang, unscheinbar.

Er arbeitete als Platzwart in einem Fußballstadion. Otto war gelernter Elektroingenieur, belesen und besessen von Erdbeeren. Er hatte auch schon als Gärtner, Koch, EDV-Administrator in einem Eheanbahnungsinstituts, Schneider von Hemdsärmeln und Schlosser sein Geld verdient. Die Höhe seines Salärs scherte ihn nie. Er brauchte es, um seine Erdbeeren, seine Wohnung, die Currywurst und das Bier beim wöchentlichen Spiel zu bezahlen. Wer seinen Lebenslauf las, staunte unschlüssig darüber, dass einer soviele Talente besaß. Die Kündigungen seiner bisherigen Arbeitgeber hatten immer mit einem Satz begonnen: „Nehmen Sie es nicht persönlich, aber….“. Sie hatten ihm bescheinigt, die weitere Zusammenarbeit sei aus betriebsinternen Gründen nicht mehr möglich und ihn, trotz seiner guten Arbeit, immer als überflüssig erachtet. Dass er tatsächlich eine Lücke riss, wurde ihnen erst nach seinem Verschwinden klar.

Otto liebte Fußball und seine Beschäftigung als Platzwart war die erste, die er längere Zeit überstand. Sein Walten im Stillen und Untergründigen entsprach seinem versteckt agilen Gemüt und die Inbrunst, mit der er seinen Aufgaben nachkam, blieb diesmal seinen Brötchengebern nicht verborgen. Er teilte sich die Aufgabe mit Bertram, der den Aufpasser vor Ort mimte und zur Stelle zu sein hatte, wenn Not am Mann war. Beim Spiel konnte Otto aus der Ferne seinen Rasen und sein Stadion betrachten, in der Masse der Fans aufgehen oder sich von deren Emotionen tragen lassen. Er hasste die spielfreien Zeiten, in denen er auf diese Bestätigung warten musste, die er allein aus den Momenten bezog, in denen die Spieler den Rasen abnutzten und die Fans dazu jubelten. Sie feierten auch ihn, sie liebten ihn, da war er sich sicher. Hier war sein Glück.

Manchmal erfuhr seine Freude am Vergnügen eine kleine Trübung. Als ihn einer seiner Tribünennachbarn ansprach, seinen Schal zwischen spitze Finger nahm, nah an ihn heranrückte, und, ihn fixierend, meinte: „Nimm’s nicht persönlich, Großer. Aber das ist kein Originalfortunaschal!“, wurde es Otto schwer ums Herz. Er hatte sich bald das Original gekauft, vom Kritiker – so glaubte er, entdeckt zu haben – beim nächsten Spiel einen wohlwollenden Blick geerntet und war wieder zufrieden in der Menge untergetaucht. Er kannte alle Fangesänge auswendig und sang sie mit sanftem Bass mit, allerdings so leise, dass man es nur an seinen Lippen hätte ablesen können, hätte man ihn angesehen.

Seine Fortuna hatte ihr letztes Saisonspiel gegen den MSV Duisburg zu bestreiten und Otto wusste, wenn seine Jungs den Ausgleich schafften, bedeutete das Rivalität mit Berlin. Wenn beide dann anzusetzenden Relegationsspiele gut ausgingen, durfte er künftig den Rasen eines Erstligisten streicheln. Otto war nervös und schlich sich schon früh auf den eigens für ihn reservierten Platz Nr. 16 in Block 164, Reihe 12. Er trat von einem Bein aufs andere und überhörte das Geplapper seines Nachbarn, der mit dem Pärchen eine Reihe über ihnen laienhafte Details über die bisherige Spielzeit austauschte. Sein Verein enttäuschte ihn nicht. Das 2:2 ließ Dämme brechen und ein Teil der Fans ergoss sich bis in den Sechszehnmeterraum über das Spielfeld. Otto schaute gebannt zu. Er wusste, was das für seinen nächsten Arbeitstag bedeutete. Die Saison war noch nicht zu Ende.

Die Leidenschaft der Fans hatte Löcher ins Tor gerissen. Einige gruben Fetzen seines Rasens aus dem Boden und trugen ihn vor sich her. Die Verletzung des Grüns schnitt ihm ins Fleisch und auch Bertram stand mit den Armen fuchtelnd in der Ferne und wütete hilflos. Er stolperte die Stufen hinab, um gleich in die Arme eines Gründiebs zu laufen, den er mit gepresster, zarter Stimme warnte: „Seid doch vorsichtig!“. „Nimm’s doch nicht so persönlich, Alter“, beschwichtigte ihn sein verblüfftes Gegenüber, sah durch ihn hindurch und verschwand. Otto ergab sich seinem Schicksal und ließ geschehen, was in seinen Augen fast einer Vergewaltigung nahe kam.

Das erste Spiel der Relegation fand in Berlin statt. Zu Auswärtsspielen zog es ihn selten und so verfolgte er das Spiel am Fernseher. In Unterhosen und Socken hockte er in seinem Sessel, trank, als täte er es heimlich, Erdbeerbowle und träumte. Ein knappes 2:1 ließ ihn frohlockend und frohgemut den übrig gebliebenen Sekt vertilgen. Es zog und prickelte angenehm in der Magengegend.

Die darauffolgende Woche brachte ihm Überstunden. Hatte er beim Spiel noch mit seinen Mitstreitern gehadert, konnte jetzt kein Loch zu tief sein. Er genoss die Akkuratesse die er zur Berechnung von Abständen brauchte, den Rhythmus seiner Arbeit, den Spürsinn für das Richtige, sein eigenes Geschick bei der Behandlung der Wunden des Platzes und den schlichten Geruch des frischen Rasens. Wenn keiner, außer ihm, mehr im Stadion war, legte er sich manchmal mit ausgebreiteten Armen flach auf den Bauch, verbarg sein Gesicht in der Grasnabe, sog das Aroma ein, speicherte das Grün in seinem Kopf und nahm es mit in den Schlaf, der ihn nach einem langen Arbeitstag daheim erwartete. Jungfräulich schön harrte der Platz den Spielern und Otto wünschte sich, ein einziges Mal auch zu jenen zu gehören, die den Rasen der Unberührtheit wieder beraubten. Am Freitag vor dem Spiel erhob er sich aus seiner genussvollen Haltung vom Grün, indem er die Beine gestreckt hielt und sich mit den Armen abstützte, schließlich die Knie nach vorne zog, in die Hocke ging und in die Höhe sprang. Mit einer Prise Glück im Leib traute er sich: Er rannte halbstark und taumelnd von Tor zu Tor, hob die Arme gen Himmel, lachte laut und dreckig, dass es hallte, stieß die Beine in die Luft, als schösse er einen Ball und setzte sich schließlich beschämt und keuchend an die Eckfahne.

Das Stadion surrte vor Stimmen, als er es am Tag der Tage betrat. Otto fühlte sich leicht malade, zugleich erregt und voller unterdrückter Ekstase. Der Ball lag auf einem Podest, die Plane über dem Anstoßkreis zeigte das Emblem der Bundesliga. Als sie von Fahnenträgern begleitet, choreographisch untermalt vom Platz entfernt wurde, fühlte er sich nahezu berauscht. „An Tagen wie diesen“, schmetterten die „Toten Hosen“ durch das Rund und Otto sang leise mit, während der Rest des Publikums aus vollen Kehlen dröhnte. Das Spiel zerrte an seinen Nerven. Es war nicht leicht, gegen die Berliner zu bestehen. Feuerwerk wurde abgebrannt. Otto stöhnte. Der Schiedsrichter unterbrach das Spiel und gebot dem Treiben Einhalt. Der Halbzeitpfiff verhalf Otto zur Entspannung. Nur langsam beruhigte er sich. Die Lautsprecher donnerten und wieder sangen alle mit: „An Tagen wie diesen.“

Otto drehte sich unvermittelt mit dem Rücken zum Spielfeld und blickte die Ränge hinauf direkt in ihre Augen. Sie waren dunkelgrün, ihr Gesicht rund und weich. Seine Lippen bewegten sich und fanden ein Echo in den ihren. „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit.“ Ottos Stimme wurde lauter, seine Augen hielten an den ihren fest und sein Mund begann zu zittern. „An Tagen wie diesen, haben wir noch ewig Zeit.“ Er begann seine Arme auszubreiten und betrachtete sie unablässig. An Tagen wie diesem beendete sie das Duett und lächelte statt dessen belustigt. Otto verstummte scheu, erwiderte Ihr Lächeln nicht und hielt ihrem Blick nach wie vor stand. Sein Herz pochte schockiert und zu schnell. Rasch wandte er sich wieder dem Spielfeld zu, konnte aber nicht anders, als ihr abermals sein Gesicht zuzukehren. Ihre Blicke trafen sich erneut. Sie grinste breit und fröhlich. Seine Verwirrung wuchs, er zählte die Menschen im Publikum und sehnte sich nach seinem Grün.

Nach unendlich scheinenden Minuten führte ihn sein Weg die Treppen hinab. Vom Fortlauf des Duells zwischen beiden Mannschaften hatte er kaum noch etwas mitbekommen. Das Spiel ging bereits in die Nachspielzeit. Es stand 2:2 und der Augenblick des Triumphs war nah. Als er schließlich auf das Feld stürmte, rannte er um sein Leben, drängte er, jubelte er laut, sprang er, warf sich auf seinen Rasen und atmete gründlich ein. Seine Nägel gruben sich tief in den Boden und er riss mit aller Kraft. Otto setzte sich auf und wurde, ehe er’s sich versah, von zwei Polizisten unter den Armen gepackt und, wie andere um ihn herum, die ihm gefolgt waren, vom Platz befohlen. Sein Kollege Bertram war, als er Otto laufen sah, an den Spielfeldrand geeilt und hatte „Otto, um Gottes Willen, Otto!“ gerufen, doch er war taub für alles gewesen und Bertrams Warnung war im Gejohle der Mitläufer ertränkt worden.  „Das Spiel ist noch nicht vorbei“, schallte es durch die Lautsprecher.

Otto war fassungslos und wie betäubt begab er sich zurück auf seinen Platz. Er sah nach oben und entdeckte sich in ihren Augen, die erstaunt auf ihn hinunter sahen. Erst jetzt bemerkte er, dass er ein Stück weißgefärbtes Gras in der rechten Faust hielt. Erschrocken sah Otto auf den Platz hinunter. Auf den ersten Blick erkannte er, wo er die Wunde geschlagen hatte. Der Elfmeterpunkt vor dem Tor der Fortuna war beschädigt. Otto schaute sie an, bettete die Beute auf beide Hände und hob sie in ihre Richtung wie eine Göttergabe. Sie runzelte die Stirn, verzog die Lippen bedauernd, aber, wie er konstatierte, fast zärtlich. Auf dem Platz ging es turbulent zu. Als die Berliner nach langem Zögern das Feld wieder betraten, um gemeinsam mit der schon anwesenden Fortuna das Spiel zu beenden, wallte Applaus durch den Raum. Otto neigte sein Haupt.

Seine Mannschaft gewann. Sein Traum erfüllte sich. Sie stieg die Treppen zu ihm hinunter. Als er vor ihr stand, bemerkte er ihr Zögern und spürte, dass sie die Flucht erwog. Er griff ihre Hand, öffnete sie, legte das Stückchen Rasen hinein und sagte mit fester, deutlich werbender Stimme: „Nimm’s ruhig persönlich, ich tu’s auch.“

Ersterscheinungsdatum, 01.07.2012 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.