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Grün ist die Hoffnung

Rätselraten

Grün-ist-die-HoffnungSie aß Käsekuchen. Tarta de Queso nannte man das hier. Ihr blondiertes Haar roch nach billigem Haarspray und Heinz brachte zum dritten Mal einen hellgrünen Likör in einem abgenutzten Glas mit langem Stiel. Heute, wie fast jeden Tag, toste ein kräftiger Wind über die Insel und um die Ecken von Puerto del Carmens Häuser, deren verblichener Charme die quirligen Nächte der sechziger Jahre nur noch ahnen ließ. Einige wenige Engländer mit großflächigen Tattoos und in Begleitung behandtaschter Damen, deren auffällig lackierte Fingernägel im Schein der Funzeln, die sich Straßenlaternen nannten, leuchteten, verließen die Discotheken des Ortes. In der Tabledance Bar direkt neben Schulzens Alpenhain arbeitete hinter dem Tresen nur noch eine Dame mit passablem Busen. Bildschirme, auf denen eindeutige Tanzdarbietungen zu sehen waren, flimmerten in allen vier Ecken des Etablissements auf die spärlich besetzen Tische hinunter.
Nicht mal im Sommer brachte das mehr Gäste ins Lokal. Gelegentlich kreischte es heftig aus der ersten Etage, wenn Mama Schulze in gebrochenem Spanisch lautstark die Sauberkeit des Innenhofs bemängelte.

Roswitha kam jeden der letzten vierzehn Tage zu Schulzens. Dort wusste man schon, was sie und ihren Waldi erfreute und hielt ihr ein Eck an dem mit karierter Plastiktischdecke garnierten Tisch frei. Nicht, dass sich je weitere Gäste hierher verirrt hätten, doch dieser Wirt wusste noch, was sich gehörte und wie man die Kundschaft bei Laune hielt. Waldi kläffte freudig, wenn der schlurfende Schritt von Heinz Schulze aus dem Dunkeln der Kneipe zu hören war und der Barcelona-Wimpel an der Tür beim Öffnen derselben klapperte. Heinz Schulze schob anschließend einen Keil unter die Eingangstür, ignorierte den Pinscher, schaltete die Musikanlage an und wischte den Sand von der Tischdecke. Roswitha saß da schon. Ein kurzes „Buenos“ wurde ausgetauscht. Waldi erhielt sein rosa Schüsselchen mit Wasser und einen Kauknochen, Roswitha ihren ersten Likör.

Kanarische Vulkaninsel. Neun Buchstaben. LANZAROTE, schrieb sie, akribisch die Begrenzungslinien der Kästchen einhaltend. Akkurate Buchstaben. Sie war immer sehr penibel bei dem, was sie tat. Wäre sie das nicht, könnte sie keinen ihrer Pläne in die Tat umsetzen. Roswitha heftete den Blick konzentriert auf die vor ihr liegende Aufgabe und kaute auf dem Kugelschreiber herum. Sie wohnte in einem schäbigen, ausgesprochen billigen Appartement, just around the corner, wie es ihr die britische Vermieterin schon vor zwanzig Jahren angepriesen hatte. Ihr Kreuzworträtselmorgen hatte an jenem Tag mit „Anderes Wort für Eiland“ angefangen. Lanzarote, hatte er gesagt und keinen Widerspruch geduldet. Mit Blick aufs Meer und Likörchen bei Heinz. Damals hatte sie den alkoholischen Seelentröster gemeinsam mit Ernst gezwitschert, wie jedes Jahr danach. Er war im letzten gestorben und lag auf dem Südfriedhof. Der Ruhm und sein Herz hatten ihm den Rest gegeben. Monotonie. Zehn Buchstaben. LANGEWEILE.

Möchten Sie abonnieren? Jahrespreis inklusive Porto- und Zustellkosten Deutschland: € 109,20. Lösung dieses Rätsels auf Seite 66. Nein, sie war immer noch nicht fertig mit dem Tod. Es war noch lange nicht Schluss. Sich ausruhen, eine Pause machen. Sechs Buchstaben. Der Kugelschreiber malte RASTEN in die Kästchen. Träge schleppte sich der Vormittag dahin, während sie drohte, immer mehr in einen Dämmerzustand zu verfallen. Schwedenrätseltrance. Reine Gewohnheit.

Zorn. Drei Buchstaben. WUT. Eifer regte sich in Roswithas Kopf. Sie bestellte sich noch einen Likör. Grün war die Hoffnung. Was wäre gewesen, wenn sie sich damals für Sylt oder Australien entschieden hätte oder gar daheim geblieben wäre? Was wenn …? Ihr erster Weg daheim würde sie zum Friseur führen. Blond mache jung, hatte Ernst gemeint. Norddeutsch: betrunken. Drei Buchstaben. DUN. Abschieds-, Lebewohlgruß. Drei Buchstaben. ADE. Roswitha ging zu Kaffee über und Heinz runzelte verwundert die Stirn. „Nuevo habitó?“, fragte er. Roswitha sah ihn abwesend an und antwortete nicht. Statt dessen rührte sie in ihrer Tasse, brütete über der Rätselzeitung und dachte nach. Der Pinscher lag in der Ecke und schlief in der Mittagssonne.

Vor langer Zeit. Fünf Buchstaben. EINST. Gottes Gunst. Fünf Buchstaben. GNADE. Ja, sie war eine begnadete Fotografin gewesen. „Du hast das Auge“, hatte ihr Lehrmeister gesagt. Dann hatte sie Ernst kennengelernt und ihm den Haushalt geführt und was sonst noch zum Dasein einer gewissenhaften Ehefrau gehörte, geleistet. „Fotografieren, das kann man auch als Hobby“, hatte er gesagt. Er war ein schöner Mann, erfolgreich und vermögend. Irrtum. Fünf Buchstaben. ERNST. Fotografieren kostete. Vereinnahmend war er. Obschon er ihren Spleen, wie er das Kreuzworträtseln nannte, akzeptierte. Da hatte sie was Eigenes, außer dem Haushalt. Manchmal war er etwas grob zu ihr. Konflikt. Fünf Buchstaben. KRIEG. Vor allem dann, wenn sie Freunde zu sich nach Hause einlud. Und erst recht, wenn sie sich dann noch erdreistete, mit ihren Freundinnen etwas zu unternehmen. Noch ein Likörchen?“, fragte Heinz, auf seinen Umsatz bedacht. „Bring mir was Stärkeres… einen Veterano“, antwortete Roswitha und kippte anschließend das Glas in einem Zug hinunter. Waldi, sein Vieh. Eine Krankheit auf vier Beinen. Roswitha sah verächtlich zu dem Hund hinunter, der immer noch selig vor sich hin döste. Geheimnis. Neun Buchstaben. MYSTERIUM.

Nun fuhr sie alleine hierher, ein letztes Mal, ohne Ernst. Der Hund war so daran gewöhnt. Zu Hause hatte er sich gebärdet wie ein kleines Kind. Er jaulte den lieben langen Tag, so sehr hatte er Ernst nach seinem plötzlichen und unerwarteten Herzanfall vermisst. Sie waren sich so ähnlich, das Tier und er. Roswitha zahlte und erhob sich unmerklich schwankend. Der Pinscher schlief. Giftige Pflanzengattung, Herzmittel, (dt.) Fingerhut. Neun Buchstaben. DIGITALIS. Sie rückte noch Waldis Wasserschüssel zurecht und ging.

Ersterscheinungsdatum: 22.02.2012 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Zeichnung: Marie van Bilk/Maria Jürgensen