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Julia Hülsmann

Klaviervirtuosin in Zimt und Sahne

Bitterschokolade und Wurzel ziehen

Jazz ist Geschmacksache – wie Bitterschokolade mit Orangen, Zimt und Mandeln. Nicht jeder mag ihn… oder sie, je nach dem – und doch, wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, der wird süchtig danach und will nicht auf diesen Genuss verzichten! Probieren lohnt sich also. Erste Sahne in dieser bittersüßen Mischung und die gesündeste und beste Einstiegsdroge überhaupt: Musik von Julia Hülsmann. Eigenwillig tiefsinnig, kraftvoll und von einer unnachahmlichen Fähigkeit geprägt, Stimmungen und Visualität zu schaffen.

6f1bac3faaa500e2764dce05a21cb3b3Die Pianistin hat spät mit der Musik als Profession begonnen. Randy Newman, der inzwischen betagte Mann, mit beißender Ironie in seinen Texten, rauher, stolpernder, zeichnender Stimme und den Zauberhänden auf dem Klavier war ihr erstes Vorbild. Ein Newman-Konzert, das sie im Fernsehen verfolgte, verhilft ihr zu Noten von seinen Liedern und einem musikalischen Schlüsselerlebnis. Ihre Fans verdanken dieser Liebe zum Old Pianoman Julia Hülsmanns dritte CD Come Closer. Seine Songs sind es, die sie hier, gemeinsam mit Anna Lauvergnac, Sängerin des Vienna Art Orchestra, zu Gehör bringt. Individueller und zugleich passender kann man Randy Newmans Songs nicht verarbeiten. Anna Lauvergnacs Timbre erinnert an die Ursprungstöne und modelliert sie dennoch völlig neu und frisch. Julia Hülsmanns Interpretation macht aus einer männlich-harten, kratzig-aufmüpfigen Melange schwarzen Samt, aus dem sie mit Absicht nicht alle Säumnadeln entfernt. Original und Hommage ans Original haben viel gemeinsam: Newman begleitet unverkennbar kritische, makabre Texte oftmals melodisch-fröhlich und unterstreicht damit umso mehr ihre Aussage. Hülsmann negiert diesen Gegensatz nicht, setzt manchmal gar noch einen oben drauf. Manches Stück hat Weill´sche Anklänge, wieder eines ist Erotik pur – alles in allem, abwechslungsreich und spannend.

Julia Hülsmanns Musikalität wird von den Eltern ambitioniert gefördert. Musik ist präsent – Klassik, Pop, Jazz, – sie wächst damit auf und ist von ihrem außergewöhnlichen Talent zunächst nur mäßig überzeugt. Auch wenn sie in der Schulzeit bereits in Bands spielt, so treibt es sie nicht gleich zur Musik als Beruf, bis sie sich dann doch entschließt, in Berlin an der Hochschule der Künste ihr Glück zu versuchen. Eine ihrer bedeutendsten und wichtigsten Dozentinnen ist Aki Takase, die ihr eine gehörige Portion Ehrgeiz verpasst. 1996 gründet sie gemeinsam mit Marc Muellbauer, ihrem späteren Mann und dem Schlagzeuger Rainer Winch das Julia Hülsmann Trio. Im Jahr 2000 geht sie für kurze Zeit nach New York, nachdem sie ein Stipendium des Berliner Senats erhalten hatte. Hier nimmt sie Unterricht bei Richie Beirach, Maria Schneider, Gil Goldstein und Jane Ira Bloom. Inzwischen unterrichtet sie selbst. So wird Julia Hülsmann auch in diesem Jahr Dozentin für Klavier und Ensemble bei der Sommerakademie der freien Kunstschule Berlin sein. Das Glück ist ihr hold. Doch ist es vor allem ihr Talent zur Komposition, ihre intuitive Kraft, ihre Freude am Spiel und ihre Energie und ihr unprätentiöses Wesen, die sie so erfolgreich machen.

Sehend hören lernen

Begleitend zur Musik wählt Julia Hülsmann Texte aus, die es in sich haben. Auch wenn hier die intuitive, musikalisch-emotionale Herangehensweise eher eine Rolle zu spielen scheint, als der schlüssige Verbund von Textaussage und Melodie. Zurück zu Randy Newman: Viele Kompositionen stehen eher im Gegensatz zum Inhalt des ausgewählten Schriftguts und machen sie gerade daher so gelungen.

Gemeinsam mit Rebekka Bakken wagt sich Julia Hülsmann an die Gedichte des US-amerikanischen Dichters, Schriftstellers und Malers Edward Estlin Cummings. Der liberale Geist, Sohn eines Harvarddozenten für Soziologie und politische Wissenschaften, ist beeinflusst von der Avantgarde seiner Zeit. Von seinen Eltern wird er in seinen kreativen Fähigkeiten bestärkt. Gertrude Stein, Amy Lowell und Ezra Pound faszinieren und beeinflussen ihn, mit John Dos Passos ist er befreundet. Von sich selbst behauptet er, solange er sich erinnern könne, schon gemalt und geschrieben zu haben und betreibt beides zeitlebens exzessiv. In Harvard spezialisiert er sich auf Griechisch und andere Sprachen und graduiert magna cum laude. Viele seiner Reisen führen ihn nach Europa, wo er in Frankreich irrtümlich während des Krieges inhaftiert wird und später auch längere Zeit lebt. In Paris studiert er Kunst. Seine Erlebnisse aus der Zeit im Gefängnis verarbeitet er in seinem ersten Roman The Enormous Room. 1923 kommt sein erster Gedichtband mit dem Titel Tulips & Chimneys heraus. Parallel dazu malt er und stellt aus. Cummings spielt und malt mit Sprache, erfindet und kombiniert, nutzt die Schreibmaschine, um Typographie, Wort- und Zeilenabstände einbeziehen zu können. Sein Talent als Maler lässt ihn Worte wie Farben auf einer Palette verwenden, die er unkonventionell, grammatikalische Regeln missachtend, zu einem neuen Ganzen verbindet. Er reißt sie gelegentlich auseinander, ordnet oder verwirrt Buchstaben sinn- und formgebend, macht Gedichte auch visuell, mehrdimensional erfahrbar. Einige Gedichte muss man sehen, um sie in ihrer Gesamtheit begreifen zu können. Lyrik ist sein Tummelplatz und Element, Basis zur Entfaltung eines wesentlichen Teils seines immens kreativen Potentials. Cummings Lebensphilosophie gründet in der Überzeugung, dass Individualität, Gefühl, Intuition und Natürlichkeit nicht begrenzt werden dürfen. In dritter Ehe ist er mit zum ersten Mal glücklich mit der Fotografin und Modeschönheit Marion Morehouse verheiratet, die er vielmals porträtiert.

Und das Ganze bitte in Musik – welche Verbindung und welche Aufgabe! Doch sind es nicht an erster Stelle die Texte, die Julia Hülsmann zu den Stücken der CD Scattering poems bringen, sondern die Stimme der Norwegerin Rebekka Bakken. Für sie schreibt sie die ersten Melodien und sucht erst dann die Texte dazu aus. So entsteht, ganz im Sinne E.E. Cummings ein völlig neues Gebilde, entgegen der natürlichen Laufrichtung. Individualität, Intuition und Visualität zeichnen auch diese CD aus. Wer E.E. Cummings liebt, wird nicht enttäuscht. Denn auch wenn die Melodien nicht ursprünglich für seine Gedichte bestimmt waren, so greifen sie den Versatz- und Bildcharakter seiner Lyrik meisterhaft und stimmig auf. Man schließe die Augen und staune! Die CD wirkt ausgesprochen ausgereift, leicht und dennoch bis ins Detail durchdacht. Jedes Teil fügt sich ins andere. Kleine Brechungen stellen die Stücke Same Girl und A Thousand Years dar, die in ihrer Urform von Randy Newman und Sting stammen.

Nicht nur am Rande sei angemerkt, dass Julia Hülsmann sich über Mangel an hervorragenden Musikern nicht beklagen muss. Marc Muellbauer am Bass und Heinrich Köbberling am Schlagzeug sind unverzichtbarer und virtuoser Bestandteil eines grandiosen Ganzen. Das zeigt sich besonders auf dieser CD, für die sie den German Jazz Award erhält.

To make a prairie, it takes a clover and a bee…

Ihr aktuelles Werk heißt Good morning midnight und befasst sich wieder mit einem außergewöhnlichen Lyrikgenie, wenn nicht der amerikanischen Lyrikerin überhaupt… Emily Dickinson.

Zu Lebzeiten hat Emily Dickinson nur sieben ihrer Gedichte veröffentlicht. Die in Amherst, Massachusetts geborene Dichterin wuchs in einem sehr religiös geprägten Elternhaus auf. Der Vater, Jurist, hatte bereits früh in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der, selbst leider, insbesondere finanziell, nicht sehr erfolgreich, für gewaltig viele Aufgaben gesorgt hatte. Emilys Vater war kaum präsent, da ständig beschäftigt oder auf Reisen. Emilys Mutter war zwar ständig zugegen, jedoch mehr oder weniger eingepfercht in die damals typisch weibliche Rolle mit allem Für und Wider. Zu ihr pflegte die Tochter ein ambivalentes Verhältnis, indem sie deren ständige Besorgtheit und Einmischung ablehnte. Später, insbesondere während jahrelanger Pflegebedürftigkeit der Mutter, schlug die Abneigung in tiefe Zuneigung um. Emily selbst rang mit ihrer Unfähigkeit die Religiosität ihrer Umgebung in vollem Umfang zu teilen. Sehnsucht und Streben nach einer unbestimmbaren Vollkommenheit ist ihr, bei hoher Intelligenz, einer grenzenlosen Imaginationsfreude und emotionaler Tiefe, eigen. Ein weiteres prägendes Element ihres Lebens ist der ständig präsente Tod, der neben Freunden auch nächste Verwandte in regelmäßigen Abständen trifft. Sie bewundert die Gedichte von Robert und Elizabeth Barrett Browning und John Keats. Mit Walt Whitman teilt sie inzwischen den Ruhm des großen Poeten, respektive der großen Poetin Amerikas. Emily blieb unverheiratet und verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens in den eigenen vier Wänden. Nur zu wenigen Freunden und Verwandten pflegte sie Kontakt. Darunter zu ihrer Schwägerin Susan, ihrer Schwester Lavinia, ihrem Bruder Austin, Thomas Wentworth Higginson und Charles Wadsworth.

Nach ihrem Tod erst wurde das Ausmaß ihres literarischen Schaffens entdeckt. 40 handgebundene Bände mit mehr als 800 ihrer Gedichte, genannt fascicles grub man aus. Da Emily Dickinsons Handschrift schwer lesbar war, sie offenbar bewusst auf konventionelle Interpunktion verzichtete, sie nach Einschätzung der ersten Herausgeber – T.W.Higginson und ihre Schwester Lavinia, sowie Mabel Loomis Todd – zum Teil des Eingriffs bedurfte, wurden die ersten Gedichte bearbeitet veröffentlicht. Erst Th. H. Johnson gibt 1955 die Originalversionen in unveränderter Form heraus. Bezeichnend auch hier: Emily Dickinson hat eine starke visuelle Note. Augen, Sehen, Gesicht sind starke Begriffe und Metaphern für Kommunikation und Leben. Der Verlust des Gesichts eine Umschreibung für den Tod. Die Wahl dieser Gedichte bedeutet die Fortsetzung eines roten Fadens in der Textauswahl Hülsmanns und unterstreicht den intuitiven, visuellen Eindruck ihrer Musik.

Gesanglich begleitet wird Julia Hülsmann von Roger Cicero, den man angesichts seiner bisherigen Veröffentlichungen in diesem Zusammenhang sicherlich nicht gesucht hätte. Umso überraschender das Ergebnis – wenn Roger Cicero, bekannt für seine Soul- und Swingqualitäten, dem Ganzen erwartungsgemäß einen leicht amerikanischen Touch gibt, so ist dieser durchaus nicht fehl am Platz. Julia Hülsmanns Handschrift bleibt klar erkennbar und insbesondere im letzten Stück der CD I don´t know his name beweist Roger Cicero sein Können und seine Vielseitigkeit. Auch hier war offenbar manchmal Melodie vor dem Text vorhanden, wie es scheint. Insgesamt wirkt die Zusammenstellung glatter als die bisherigen Veröffentlichungen. Doch passt das zweifellos zu Emily Dickinsons wachem Geist und ihrem Puritanismus. Und auch hier entstehen Kopflandschaften der besonderen Art.

www.juliahuelsmann.de
www.jazz.webcologne.com
www.bit-musikverlag.de
www.jazzhausmusik.de
www.actmusic.com
www.bartleby.com/113/
www.gutenberg.org/etext/8446
www.randynewman.com/

CDs
Julia Hülsmann Trio, Trio, BIT Jazzhaus
Julia Hülsmann, Rebekka Bakken, Scattering Poems, Act
Julia Hülsmann, Anna Lauvergnac, Come Closer, Act
Julia Hülsmann, Roger Cicero, Good Morning Midnight, Act

Ersterscheinungsdatum: 14.08.2006 auf einseitig.info

Erschienen auch in: „Die schöne Kunst der Einseitigkeit“, Edition Einseitig, 2009

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen, auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Foto: Volker Beushausen