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Wenn der Bagger kommt – Teil 4

Über die letzten Bewohner eines untergehenden Dorfes

Ein Gespräch in vier Teilen

Alte Heimat!

Otzenrath_3_DirkWir gehen schließlich die weiße Holztreppe hinauf in die erste Etage, in die drei hellen, kleinen Räume. Die Holzdielen knarren und ich stoße mir, obwohl ich recht klein bin, beinahe den Kopf an einer Tür. Hier riecht es wie früher in den Räumen, in denen meine Oma zu Hause war … nach einer Mischung aus Kölnisch Wasser, süßlicher Wärme und Schokolade. In diesen Räumen zu sein, fühlt sich wie eine herzliche, lange Umarmung nach einem Wiedersehen an. Wir verlassen die erste Etage nach einem recht langen Pläuschchen wieder, um durch die schmale Küche, in der Hermann wieder vor sich hin schnurrt, in den Garten zu gehen. Inge hat die Äpfel von den uralten Bäumen ihres Gartens zum Reifen auf eine alte Tür gelegt, die übergangsweise als Tisch dient. Eine Regentonne wartet bis zum Letzten auf die Gießkanne. Auf einem Ziegelstein vor Inges geliebten Wildblumen, die sie auch noch umpflanzen will, steht eine Blechtasse mit leicht verwelkten Rosen. Eine alte Toilettenhäuschentür in bäuerlichem Grün ist ebenfalls ausgebaut und wartet darauf, von Inge in ihr neues Domizil gebracht zu werden. „Das alte Törchen da oben“, sagt Inge, und zeigt auf ein unerreichbares Holztürchen in Pastellfarben „das hat noch die Farbe von vor Ewigkeiten. Das war schon so, als ich noch Kind war. Wenn die Türen gestrichen wurden, haben wir immer dieses Törchen vergessen…“ lacht sie“, das nehme ich auch mit nach Hochneukirch. Hier wird alles ausgebaut. Wenn es geht, säge ich auch die Treppe raus und stelle sie mir ins Wohnzimmer… hab ich ja schon erzählt!“ Ein wenig Verzweiflung ist schon in der Stimme, denn eigentlich muss sie in zwei Wochen endgültig draußen sein. „Das schaffe ich gar nicht“, sagt sie trotzig.

otz4_03In einer Nische hängt eine Sammlung von alten Kleiderbügeln, die ihr Vater noch gesammelt hat und ein traumhaft schöner Schrank, für den man auf Antikmärkten ein Vermögen zahlen würde. Er steht an der Rückwand eines mit Werkzeug, alten Körben und Behältnissen gefüllten Raumes. „Den nehme ich auch mit. Mein Papa hat den immer für seine Schrauben benutzt“, sagt Inge. Eine riesengroße Wand wird von Wein überrankt. „Willst Du ein paar Trauben?“, fragt meine Gastgeberin und steigt schon in den Wein, um einige zu pflücken, “der hat nie Trauben gehabt“, sagt sie, “erst jetzt, wo das alles hier den Bach runtergeht, da traut er sich!“ Die Trauben sind sauer, aber sehr saftig und frisch. Der ganze Rebstock ist über und über voll von Früchten. Wir erreichen ein Törchen und einen Drahtzaun. Das Törchen wird von zwei alten Kinderschlitten und einem uralten Ofenaufsatz verstellt, wird gehalten von einer Drahtsicherung und drei Glocken hängen daran. „Siebenfach gesichert“, sagt Inge, während sie jedes einzelne Stück gemächlich zur Seite räumt, „man kann hier einfach nicht sicher sein, dass keiner einsteigt.“ Und dennoch. Das Schild, dass die Nachbarin an die Wand gehängt hat und das Plünderen von „Nix mehr da“ erzählt, ärgert sie eher. Das lockt Sensationsreporter und Katastrophentouristen. Das tut ihr weh, diese Artikel. Inge sieht hier das Wesentliche nicht erfasst. Es geht um den Verlust von eigener Kultur und Geschichte. „Das nimmt keiner wahr“, sagt sie.

Wir gehen einen schmalen, zugewachsenen Weg durch Brennesseln in den hinteren Teil des Gartens, in dem uralte Obstbäume stehen und Efeu sich sein Revier erobert. Eine Bank und zwei Stühle stehen unterotz4_04 dem Baum. „Hier haben wir immer gesessen“, erzählt Inge. Mehrfach müssen wir Draht überwinden, der ebenfalls die Einbrecher abschrecken soll. Auch nach hinten hat sich Inge verbarrikadiert. Sie sammelt zwei Steine auf, mit denen sie den Grundstein für ein Regal legen will. „Hier wachsen im Frühjahr unzählige Schneeglöckchen, alles voll“, beschreibt Inge das Terrain, „die Zwiebeln muss ich auch noch alle ausmachen und mitnehmen.“ Sie seufzt. Es gibt soviel zu tun, dass die Zeit in jedem Fall zu knapp erscheint.

Verlassene Reviere

Wir gehen zurück ins Haus und Inge macht das Radio an, weil sie mit mir eine Tour durch den Ort Otzenrath machen will. „Das Radio wird eingeschaltet, damit man glaubt, wir sind zu Hause. Das hat sich aber in einschlägigen Kreisen sicher längst rumgesprochen“, erklärt Inge die Maßnahme. Nein, wirklich Angst vor Einbrechern hat sie nicht. Als wir das Haus verlassen, fährt der Sicherheitsdienst an uns vorbei. „Den kenne ich noch nicht“, sagt Inge, “sonst kenne ich sie alle. Und die kennen mich.“ Nun wird es abenteuerlich. Inge macht mit mir eine Reise in ihre und auch ein wenig in meine Kindheit. Wir betreten einen Gutshof, der sich ehemals auf Äpfelanbau und Viehzucht spezialisierte. Diese eigenartige Stille ist wieder gegenwärtig. Es riecht noch nach Vieh, obschon nicht ein Karnickel, geschweige denn Kühe, Hühner oder Schweine hier noch ihr Zuhause haben. Es ist still hier. Eine alte Apfelsortiermaschine, eine Holzlegeeinrichtung für Hühner, eine Kartoffelmiete ist stehen geblieben. In dem Raum, in dem offenbar Autos und Traktoren repariert wurden, riecht es in der Grube noch nach Öl. Der Boden ist lehmig, nicht betoniert, einfach festgetreten. Die Menschen hier scheinen schon länger weg zu sein. Auch hier erobern sich die Pflanzen das Gebiet zurück. Ein alter Kaninchenstall trägt die Aufschrift „Molly und ihre Kinder“ und die Namen der kleinen Besitzer des Nagetiers.

Einige Säcke, in die wohl einmal Äpfel sollten, wurden zurück gelassen. 8ba7f11be7e64d9413c34f1f00c5a09cDer große Apfelaufkleber ist vom Tor entfernt worden, ist als Kontur aber nach wie vor zu sehen. Schmiedeeiserne Verzierungen markieren die Trägerbalken auf den alten Wänden. Die Treppe zum Heuboden und das große, massive Eingangstor werden von einer Kletterpflanze in ein Paradies verwandelt. Irgendwie kann ich einfach nicht glauben, dass dieses wunderschöne Gebäude abgerissen werden soll. Es steckt noch soviel Leben drin.

Wir ziehen weiter durchs Dorf. Gegenüber der Bäckerei, die längst von der letzte-Brötchen-Bäckerin verlassen wurde, obwohl das „Vorsicht bewohnt“ aufmüpfig verhindern zu versuchen scheint, dass sie abgerissen wird, wächst Gras über ein ehemals dicht besiedeltes Fleckchen. „Das erscheint einem viel kleiner, wenn man das als Fläche sieht. Hier standen so viele Häuser und hier…“, Inge markiert eine Flucht, „… war mal eine kleine Gasse, die ich oft entlanggegangen bin.“ Die typischen Kacheln der Brachen findet man hier, Reste von Glas. Wir sammeln Kachelreste in allen Farben ein, wie wertvolle römische Tonscherben. Und nicht viel weniger sind sie.

Ein Besuch auf dem alten Friedhof zeigt abgesenkte Flächen, auf denen schon keine Gräber mehr zu sehen sind, aber auch überall Gräber, auf denen die erwähnten kleinen Holztäfelchen verraten, wann die Toten umziehen sollen und wohin. Ganz genau ist vermerkt, wer zukünftig rechts und wer links gebettet werden wird. „Wie man sich bettet, so liegt man“, sagt Inge sarkastisch. Ein uraltes Grabmonument soll mit umziehen. Einer der wenigen Grabsteine, die sicher gerettet werden. Gegenüber der Kirche und der Schule, die die Kinder derzeit noch besuchen dürfen und zu der sie täglich mit dem Schulbus gekarrt werden, steht das „Schlösschen“. Hier zogen zuletzt ein Sportstudio und junge Leute ein. Der Innenhof ist riesig groß und besonders fasziniert der alte bemalte Taubenschlag in der Spitze eines der Hofgebäude. „All das stand mal unter Denkmalschutz“, erzählt Inge, „aber das zählt jetzt nicht mehr.“ Die Kohle im echten wie übertragenen Sinne zählt mehr. Zwei Plumpsklos finden wir, auch ein Relikt unserer Kindertage. Das stank wirklich! Otzenrath_2Und Inge erzählt begeistert von den Maden, die sie als Kinder neugierig in den Tiefen dieser Güllebehältnisse begutachteten. Diese Thrönchen aus uralter Zeit wären allemal fürs Museum geeignet. Uralte Buchen hinter dem schnörkeligen Gebäude mit Türmchen und Stuck wird es auf diesem Platz bald nicht mehr geben. Wir gehen alte Straßen entlang, an denen es rechts und links nur noch Verfallenes, Verlassenes oder schlicht gar nichts mehr gibt. Der alte Schrebergarten ihres Vaters lässt Inge noch einmal innehalten. „Das war mein Lieblingsweg, an der hohen Buchenhecke vorbei. Da haben mein erster Mann und ich uns stundenlang voneinander verabschiedet“, lacht sie. Ein Platz aus der Vergangenheit, der mir als einer der letzten Zeugen noch einmal gezeigt wird. Einen Platz, den die Kinder der Umgesiedelten nur noch aus Erzählungen kennen werden. Da bleibt dann zukünftig nur noch Ironie: „Guck mal, da unten neben dem Bagger, da ungefähr stand mal unser Haus und da neben der Halde bin ich – glaube ich – zur Schule gegangen.“

Aus einem kleinen Versteck holt Inge ein paar ausgemachte Pflanzen, als könne sie das alte Otzenrath komplett an einen anderen Ort verpflanzen. Wie mit den Menschen, gelingt das auch hier nur ein kleines Stück.

Auf dem Weg durch das Dorf sehen wir von Ferne einen jungen und einen älteren Mann, die einen Container durchforsten. „Da plündern sie wieder“, sagt Inge zunächst. Schon auf dem Weg sind uns einige langsam fahrende Autos begegnet, die Inge als potentielle Abstauber identifizierte. Doch dann erkennt sie die ehemaligen Nachbarn, die sich nach dem Ausmisten doch das ein oder andere Stück wieder aus dem Container herausholen. Abschiednehmen scheint also doch nicht so einfach zu sein. Oder doch? Auf die Nachfrage, wie es denn so im neuen Dorf sei, antwortet der jüngere von den beiden Männern: „Schön, alles neu!“ Der Alte schweigt. Und auch Inge hat es nicht so mit Abschied. Als ich schließlich auf der Düsseldorfer Straße „Auf Wiedersehen“ sage, lasse ich ein ernstes Gesicht zurück und mir kommt wieder in den Kopf, was Inge kurz vorher noch sagte: „Wenn ich könnte, würde ich bleiben. Auch jetzt noch, wo schon so viel kaputt ist.“

Ersterscheinungsdatum: 11.11.2005 auf einseitig.info

© Marie van Bilk/Maria Jürgensen – Veröffentlichungen des Texts, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

© Fotos: Marie van Bilk/Maria Jürgensen und Dirk Jürgensen