Thomas Meyer – Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse / Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Motti Wolkenbruchs hat es schwer. Der Sohn jüdischer Eltern soll unbedingt die Frau fürs Leben finden. Das sagt jedenfalls seine Mutter und organisiert eine Frau nach der anderen für ihn. Motti jedoch hat nur Augen für Laura, eine Kommilitonin, auf die auch so manch anderer Mann ein Auge wirft. Motti ignoriert nicht nur die Kuppelversuche seiner Mutter, er verbündet sich auch noch mit einer dieser Damen, um weiteren Eheanbahnungen zu entgehen. Derweil wird Laura für ihn realer und zeigt erstes Interesse. Seine Unschuld verliert Motti allerdings woanders und Laura ist eine Schickse – eine Nichtjüdin, also. Das macht es richtig kompliziert.
Ich habe selten während eines Buches so viel gelacht!
Gleich im Anschluss kann man „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit einer Spionin“ lesen. Es kann zwar den ersten Hit nicht ganz toppen, ist aber ein kleines Trostpflaster, weil das erste Buch gar allzu schnell zu Ende ist.
Der zweite Band startet mit Mottis Reise nach Israel, nachdem er zuhause als „verlorener Sohn“ gilt. In einem Kibbuz, inmitten von nicht minder schrägen Vögeln als er einer ist, schafft er es, eine Orangenplantage mit außergewöhnlichem Marketing in ungeahnte Höhen zu katapultieren und das Weltjudentum anzuführen. Doch was ist mit den Nazis, die das Internet und eine Hassmaschine erfinden, nachdem auf der ganzen Welt nur noch Shashuka und Hummus gegessen wird und alle Menschen sich mögen und vertragen? Was hat die elektronische Helferin Alexa damit zu tun, warum gibt sie Widerworte und wie verhindert Mottis Mutter den dritten Weltkrieg?
Sie hat mich nicht. Nein, sie hat mich nicht gekriegt mit ihrem Roman „Die Kunst des Verschwindens“.
Ich weiß nicht genau, was ich nach Lesen des Klappentextes erwartet habe… kein literarisches Meisterwerk, gute Unterhaltung und eine schlüssige Geschichte schwebten mir vor. Höher ist der Anspruch des Buches sicher nicht und man kann auch nicht unbedingt von Nichterfüllung meines Wunsches sprechen. Dennoch dachte ich beim Zuschlagen des Buches, weniger Brimborium hätte es auch getan.
Die Form ist nicht neu – erzählt wird aus zwei verschiedenen Erzählperspektiven. Wenn Nico, eine der beiden Protagonistinnen zu Beginn von einem mysteriösen Mann erzählt, den sie ihrem Freund beichten muss, gerät man auf die erste vieler falscher Fährten. Und auch die Beziehung zwischen Ellen, einer berühmten Schauspielerin und zweiten Hauptperson und ihrem vermeintlichen Freund bleibt zunächst nebulös. Und was hat das Fährunglück und der unverarbeitete Verlust der Mutter für Nico zu bedeuten? Beide Frauen begegnen sich scheinbar zufällig und haben gleich einen außergewöhnlichen Draht zueinander. Schon beim Betrachten einer Werbung an einer Hauswand, auf der die Schauspielerin abgebildet ist, glaubt Nico an eine Verbindung zwischen ihnen beiden. Ellen verschwindet, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen und Nico macht sich auf die Suche nach ihr.
Ein Spur Krimi samt Leiche hier, eine Prise Mysterium plus Zufall dort, ein kleines bisschen Zuviel an überraschenden Wendungen und Figuren, die als Vermittler dienen müssen, um die Geschichte einigermaßen logisch bleiben zu lassen. Es bedarf recht vieler Erklärungen und Nebenschauplätze, um schließlich ein ziemlich konstruiertes Ende zu erreichen, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Die Sprache – solide, aber nicht besonders raffiniert.
Für mich war’s ein Roman unter vielen und keiner, der mich lange begleiten wird. Sehr schade!
Jane Dunn – A very close conspiracy – Virginia Woolf und Vanessa Bell
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Virginia Woolf und Vanessa Bell standen sich als Schwestern besonders nah. Einerseits rivalisierten sie beruflich auf dem jeweilig eigenen Feld oder in ihren Beziehungen zu zum Teil denselben Männern, andererseits unterstützten sie sich künstlerisch, in Krisen, beim Verlust von Eltern, Geschwistern und Kindern. Gemeinsam waren sie ein wesentlicher Teil der Bloomsbury Group. Was Dunn, im Gegensatz zu vielen anderen Büchern über das Geschwisterpaar nicht auslässt, ist der sexuelle Missbrauch, den Virginia durch George Duckworth, ihren Stiefbruder, erlitt. Er hatte maßgeblich Einfluss auf ihre späteren Verhältnisse zu Männer und Frauen, die sie gleichermaßen liebte. Für viele LeserInnen greift auch diese Beschreibung immer noch zu kurz.
Man unterstellt der Autorin, sie sehe beim Missbrauch zu wenig Zusammenhang zu Virginias und auch Vanessas psychischen Erkrankungen und gehe zu oberflächlich damit um. Ich halte es aber für eine steile These, eine bipolare Störung, unter der Virginia Woolf litt und eine Depression Vanessas einzig und allein auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen. Er hatte zweifellos einen erheblichen Einfluss auf die Gesamtkonstitution des Geschwisterpaares. Die psychische Erkrankung findet sich aber auch in der Familiengeschichte wieder. So litt auch Leslie Stephen an einer Depression. Auslöser für Virginias Attacken waren außerdem oftmals außergewöhnliche Belastungen außerhalb des Beziehungsumfeldes.
Dunn gibt Einblick in die Herkunft und Familiengeschichte Virginias und Vanessas und geht dann über zu den Persönlichkeiten, die sich auf diesem Boden und entgegengesetzt zu ihm entwickelten. Sie schildert ihr Leben in Beziehung zu ihrem Umfeld – zum homosexuellen Duncan Grant, zum geradlinigen Leonard Woolf, zum belehrenden Clive Bell, zum inspirierenden Roger Fry und zur selbstbewussten Vita Sackville-West.
Dunn schildert Vanessa Bell zunächst als eine Frau, die ihren Kindern und ihren jeweiligen Partnern in besonderer Weise Beachtung schenkte. Virginia dagegen habe den Schwerpunkt auf den Geist gelegt, ein besonderes Bedürfnis nach Anerkennung gehabt und sei Vater und dem Bruder nachgeeifert. Ich kann diese Einschätzung nicht in Gänze teilen. Malende und schreibende Frauen hatten es zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwer in einem männlich dominierten Umfeld Fuß zu fassen und Beachtung zu finden. Während Virginia sich naturgemäß mehr profilieren konnte, geriet Vanessa durch das Medium selbst leichter in den Hintergrund. Zumal Malerei als Freizeitbeschäftigung für gelangweilte Damen der Gesellschaft galt. Im Hause Stephen hatte die Beschäftigung mit dem geschriebenen Wort noch dazu außergewöhnliches Gewicht. Vanessa ging Beziehungen mit Malern ein, die – wenn man ihre Werke mit den ihren vergleicht – nicht begabter, als Männer aber, schon wegen ihres Geschlechts, mehr Berühmtheit erlangen konnten.
Ohne Zweifel waren Vanessa und Virginia bei aller Progressivität von den Werten des viktorianischen Zeitalters beeinflusst und manche Lebensentscheidung davon geprägt. Es ist zu bewundern, wie die Schwestern sich, trotz der Umstände, die Frauen deutlich benachteiligten, mit ihren Lebensentwürfen durchgesetzt haben.
Vanessa Bells visuelle Ästhetik fand Einzug auch in Virginias Werk. Sie illustrierte viele ihrer Bücher, die sie mit Leonard Woolf über die Hogarth-Press veröffentlichte. Außerdem wird auch in Dunns Text deutlich, wie viel Einfluss sie, schon aufgrund gemeinsam durchgestandenen Leids, auf das Leben ihrer Schwester ausübte und umgekehrt. Es illustriert, wie durch die beiden Frauen die Bloomsbury Group erst entsteht, insbesondere durch Vanessa. Es zeigt, welche fantastisch-bahnbrechende künstlerische Vision Vanessa Bell in Charleston umzusetzen verstand.
Der Fokus des Werks liegt ein wenig zu sehr auf Virginia, dennoch lesenswerte Lektüre.
Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Zwei Bücher über das ungleiche Paar
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Ingeborg Bachmann und Max Frisch lernen sich in Paris kennen. Nachdem Frisch das Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ kennt, schreibt er ihr. Und als Max Frisch in Paris weilt, um der Aufführung seines Stückes „Biedermann und die Brandstifter“ beizuwohnen, trifft man sich. Statt ins Theater zu gehen, verbringen sie die Nacht redend auf einer Parkbank. Bachmann hat gerade den verheirateten Paul Celan verlassen und ist sich gar nicht sicher, was sie von Frisch will. Und auch Frisch ist nicht besonders eindeutig, als er den Kontakt mit Bachmann fortsetzt. Er sei nicht verliebt, schreibt er, aber er liebe sie. Nur wenige Zeit später zieht die Schriftstellerin zu Frisch in die Schweiz. Sie bewohnt eine eigene Wohnung, aus der man sie fast herauswirft, weil man eine „Hure“ nicht zu beherbergen gedenkt. Die Schweiz ist konservativ, engstirnig und Ende der 50er wenig begeistert von Paaren, die unverheiratet eindeutigen Tätigkeiten nachgehen. Schon das Aufhängen der Wäsche im Bademantel wird Bachmann angekreidet.
Bachmann hat zuvor lange Zeit in Rom gelebt, Philosophie, Psychologie, Germanistik und Rechtswissenschaften an den Universitäten Innsbruck, Graz und Wien studiert. Sie ist eine selbstständige und erfolgreiche Lyrikerin, Librettistin, Hörspielautorin, Rednerin, Journalistin und Übersetzerin. Gerade hat sie begonnen, sich eigener Prosa zuzuwenden. Sie raucht wie ein Schlot, trinkt wie ein Maurer und nimmt Tabletten um zu schlafen oder in Schwung zu kommen. Sie ist mit vielen Künstlern, vornehmlich Männern befreundet. Mit dem Komponisten Henze zum Beispiel, für den sie die Texte zu seinen Opern schreibt. Mit Enzensberger, Grass, Walser, ihrem Lektor, Reinhard Baumgard, später Johnson und vor allem nach wie vor mit Paul Celan. Sie reist, ist umtriebig und unbestreitbar begabt und klug.
Bachmann erkämpft sich jedes Wort, schreibt mühsam, hat mit manch einer Blockade zu kämpfen. Ihre Texte sind unverkennbar Bachmann, stark, bildhaft, besonders. Sie lebt für sprachliche Perfektion. Und sie schreibt meist nachts.
Max Frisch hat seinen Durchbruch noch vor sich, erntet bereits Anerkennung für die ersten Werke, schließt sein Architekturbüro und kann bald von der Schriftstellerei leben. Als sein Roman „Stiller“ erscheint, kennt ihn bald die ganze Welt. Er ist frisch geschieden, hat Kinder und lebt nach wie vor in ihrer Nähe. Die Schweiz empfindet er als Heimat, lebt gerne dort, wandert, gilt als bodenständig und verwurzelt. Frisch macht Bachmann einen Heiratsantrag, den sie vehement ablehnt. Als seine Faru bräuchte sie seine Erlaubnis, um zu arbeiten. Sie sei keine selbstständige Frau mehr und würde immer im Verhältnis zu ihm gesehen. Es sei bereits jetzt schwierig, sich als Frau auf einem von Männern dominierten Parkett zu bewegen. Sie gebe das Erreichte nicht auf. Das führt zu einem großen Eklat und Frisch fühlt sich verletzt.
Frisch und die Frauen – ein großes Thema und eines, das seine Unfähigkeit zur Beständigkeit in Liebesdingen zeigt. Er liebt den Anfang und erliegt nur zu oft dem Charme einer Dame, mit der er auch dann, wenn er in einer Beziehung ist, ohne schlechtes Gewissen seine Nächte verbringt. Selbst wenn es eine Vereinbarung mit den ständigen Partnerinnen gibt, so zeigt er sich den ausgesuchten Frauen gegenüber in der Regel wenig empathisch. Gleichzeitig ist er unfassbar eifersüchtig und unterstellt seinen Frauen, insbesondere Bachmann, der viele Männer unverkennbar zugetan sind, nicht treu zu sein. Das hält er schwer aus und macht so manche Szene.
Bachmann und Frisch ziehen zusammen, denn sie können trotzdem nicht voneinander lassen. Das geht nicht lange gut. Man einigt sich schließlich darauf, in Rom einen neuen Lebensmittelpunkt zu etablieren und bewohnt dort zuletzt ein prachtvolles Anwesen, in dem Bachmann so gut wie nie verweilt. Frisch arbeitet in festen Intervallen über Tag und sie kann, obwohl sie ihren eigenen Arbeitsbereich hat, sein Getippe kaum ertragen. Noch schwerer macht es ihr sein Misstrauen. Sie flieht. Zum Einkaufen. Zum Friseur. Auf eine Lesung. Zu Freunden. Ihre Abwesenheit wiederrum nährt Frischs Eifersucht und macht ihn einsam. Zwar hat man sich inzwischen auf eine offene Beziehung geeinigt, die keine Liebe zu anderen zulässt. Doch die Praxis sieht anders aus.
Bachmann beginnt eine Beziehung zu Hans Magnus Enzensberger und Paolo Chiarini. Als schließlich Tankred Dorst seine Freundin Marianne Oellers zu einem Essen bei Frisch und Bachmann mitbringt, umgarnt der Schriftsteller offen die wieder mal sehr viel jüngere Frau. Da ahnt Bachmann noch nicht, dass diese Affäre endgültig das Ende der Beziehung zu Frisch bedeutet. Das Unglück geschieht. Oellers und Frisch werden ein Paar. Max Frisch trennt sich und Ingeborg Bachmann kann es nicht fassen.
Sie muss in die Klinik, wird operiert. Ihre Seele ist beschädigt und sie verwindet die Trennung kaum. Alkohol,-, Zigaretten,- und Tablettenkonsum nehmen zu. Sie schreibt, unter anderem ihren Todesarten-Zyklus, von dem nur „Malina“ vollendet wird. Der letzte Satz lässt sich allzu leicht auf das Verhältnis anwenden. Denn dort steht: „Es war Mord.“ Sie klagt Frisch an, vor allem, nachdem „Mein Name sei Gantenbein“ veröffentlicht wird. Frisch hatte ihn ihr zur Freigabe geschickt. Offenbar hat sie sogar vorab Teile gelesen und sie gutgeheißen. Jetzt glaubt sie sich in der Protagonistin Lila wiederzuerkennen. Möglicherweise ist das ihre Art, das Entsetzen über Frischs neue Beziehung loszuwerden, das Scheiden voneinander zu verwinden.
Am 17. Oktober 1973 stirbt Ingeborg Bachmann an den Folgen eines Brandes und an unerkannten Entzugserscheinungen in Rom. Der Brand wurde durch eine brennende Zigarette ausgelöst. Frisch kann noch Jahrzehnte später schwer über die Beziehung zu Ingeborg Bachmann reden. Man habe es nicht gut gemacht, konstatiert er. Viel von dieser Frau findet Einzug in sein Werk. Doch das tun auch all seine anderen Beziehungen.
Bettina Storks Buch „Poesie der Liebe“ ist ein Roman über diese Liebe, sofern man diese Abhängigkeit voneinander denn so nennen mag. Die Aufmachung des Buches ist nun wirklich nicht meins. Zwar ist „Poesie der Liebe“ ein Zitat von Frisch, jedoch wirkt das Titelbild eher wie das Cover für eine Schmonzette. Das ist schade.
Der Roman ist unterhaltsam und verarbeitet viele Details aus dem Leben der beiden Künstler auf einem Niveau, das ihn für eine breite Leserschicht interessant macht. Zwar wird in Storks Buch die Ambivalenz der Charaktere nicht ganz so deutlich, wie in einer Biographie, aber dafür die Interaktion in der Paarkonstellation deutlich.
In Ingeborg Gleichaufs Buch „Ingeborg Bachmann und Max Frisch – Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit“ ist diese Diskrepanz, die in der Beziehung herrscht, sehr viel artikulierter. Sie nähert sich der Gefühlswelt der beiden an und unterlegt deren gemeinsamen Lebensweg mit ihrer Interpretation. Sehr fundiert, sehr fein, hervorragend formuliert.
Für beide Bücher in jedem Fall eine dicke Empfehlung. Macht Lust auf mehr!
Max Frischs „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ knüpfen an die beiden legendären Tagbücher, die 1950 und 1972 erschienen an. Allerdings haben sie wenig mit der üblichen Form eines Tagebuchs zu tun. Max Frisch schreibt sie von Anfang an für ein Publikum. Und das merkt man selbstredend. In diesem Band geht es um den Kalten Krieg, um andere politische Fragen der 80er Jahre, den Krebstod eines engen Freundes, das Altwerden und sein Verhältnis zu Frauen.
Ich muss gestehen, dass mich diese Eintragungen relativ kalt gelassen haben, zumal ich bereits andere Tagebücher berühmter Personen las. Darunter Susan Sontag oder Astrid Lindgren, die ebenfalls viel über ihre Zeit, aber auch über sich selbst preisgeben. Für mich wurden dadurch Zeit und Person greifbar und ließen mich bereichert zurück. Max Frisch erlebe ich anders. Beobachtend, kühl, außen vor und selbst in seinem Bezug zum kranken Freund, dem er zweifellos zur Seite steht, seltsam abwesend.
Ich mag ihm hier absolut Unrecht tun. Aber so recht warm werde ich mit ihm nicht.
Sally flieht aus einer Klinik, in der sie wegen einer Essstörung eingewiesen wurde. Sie ist dünn wie ein Hering, wütend für Zehn. Sally ist 17 und hat keine Lust auf die Regeln ihrer Eltern, die Enge der Schule, den vorgezeichneten Weg, den andere für sie sehen. Sie ist klug und hat ihren eigenen Kopf. Wenn jemand sich sorgt, ihr die falschen Fragen stellt, geht sie auf die Barrikaden. Auf ihrem Weg über die Dörfer begegnet ihr die Bäuerin Liss. Sie ist eine Pragmatikerin, managt den Hof ganz allein und kann zupacken. Vor allem aber unterscheidet sie sich von den Erwachsenen, die Sally kennt. Sie fordert nichts. Sie bietet an. Sie ist klar, direkt und urteilt nicht. Und sie bietet Sally an, auf dem Hof zu übernachten. Es bleibt nicht nur bei einem Tag. Sally bleibt, auch, nachdem die Polizei bei Liss nach ihr fragt. Auch, nachdem es dann doch ein paar Mal zum Streit kommt. Langsam nähern sich die beiden Frauen einander an und Sally erfährt auch mehr über Liss. Derweil arbeiten sie mit den Händen, bewegen sich in einer Natur, die hält und nährt. Sally kommt – im wahrsten Sinn – auf den Geschmack und beginnt, ihren Körper und sich selbst anders zu begreifen. Doch dann kommt alles doch noch einmal anders.
Schönes, warmes Buch, sehr empathisch und mit einem guten Gespür für junge Menschen. Empfehlung!
Zadie Smith hat mit Kurzgeschichten während des Studiums angefangen und mit „May Anthologies“ ihren ersten Band veröffentlicht. Bekannt wurde sie allerdings mit „White Teeth“, das sie ebenfalls noch an der Uni schrieb. Ihr zweiter Roman „The Autograph Man“ war nicht ganz so erfolgreich, jedoch begann sie kurz danach mit ihrer ersten Essaysammlung „The Morality of the Novel“, mit denen sie bereits ihr Talent, auch in dieser Disziplin beweist. Ihr dritter Roman „On Beauty“ wurde für den Man Booker Prize nominiert und 2006 für den Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. In der Folge schrieb sie wiederum eine ganze Reihe von hervorragenden Essays, bevor sie ihren Roman „NW“ veröffentlichte. Es folgten „swing Time“ und „Grand Union“.
Die sechs Essays im Band „Intimations“ von Zadie Smith wurden in der ersten Zeit des Lockdowns geschrieben und sind sehr berührend.
Was bedeutet es, sich einer neuen Wirklichkeit zu stellen oder auch sich ihr zu entziehen, dagegen anzukämpfen? Was ging wem wo in der Krise verloren, was gewannen wir an Erkenntnis und welche anderen Themen birgt diese Zeit, die durch die Pandemie eine weitere Nuance erfahren haben, nicht übersehen werden dürfen? Feminismus, Rasse, Klassenunterschiede, das Schicksal nächster Generationen und auch ganz persönliche Orte in Zadie Smith‘ Denken und Fühlen werden in großartige Texte verwandelt.
Susan Sontag – If Consiousness is Harnessed to Flesh – Diaries 1964-1980, herausgegeben von David Rieff
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
David Rieff hatte zwei große Taschen mit Tagebuchaufzeichnungen, die er sichtete und aus denen er exemplarisch für die zu veröffentlichenden Tagebücher seiner Mutter – Susan Sontag – auswählte. Nun stellt allein die Auswahl bereits einen Eingriff in die autobiographischen Stücke dar. Außerdem erhält der Leser in der Tat nur lose Puzzle-Teile, die er zu einem individuellen Wahrnehmungsbild verschmelzen lassen kann.
Manche Stellen des zweiten Bandes von Susan Sontags Tagebüchern sind schwer zu ertragen. Es sind meist solche, in denen sie über ihre Liebesbeziehungen spricht. Manchmal möchte man sie wecken, sie fragen, warum sie als eine sonst überaus analytische Frau in anderen Situationen so blind für das Offensichtliche ist. Nun. Jeder lebt sein Leben – with all its obstacles and difficulties.
Zwischendurch dachte ich: „Jetzt hast Du aber genug von Sontag!“, zumal sich aus der Lektüre parallel weitere ergaben: Hustvedt denkt ein Essay von Sontag weiter. Didion, Oates, Solnit oder Taubes fließen als (Re-)reads in meine Hände. Die Mutter von Fran Lebowitz taucht auf. Über L. habe ich gerade eine wunderbare Doku gesehen.
Kurz: Sontag-Lektüre (über und von) motiviert. Ihre Essays tun genau das, was Essays tun sollen. Sie sind inspirierend fürs eigene Hirn. Ich bin nicht mit allem einverstanden, manches langweilt, anderes interessiert mich nicht, aber die Essenz fesselt.
Habe noch nie so viel parallel gewollt beim Lesen. Das ist toll, erfüllend.
Ich mag Robert Seethalers Bücher. Allein schon, weil man die Melodie des Österreichischen mitliest, seine Sprache elegant und weich daher kommt.
Mein erstes Buch, das ich von ihm gelesen habe, war „Ein ganzes Leben“. Der Seilbahnfahrer Andreas Egger blickt dort auf dem Sterbebett auf sein Leben und die große Liebe zu Marie zurück.
In „Der Trafikant“ wird die Geschichte von Franz Huchel erzählt Er findet als 17jähriger Lehrjunge von Otto Trsnjek in einer Trafik in Wien eine Anstellung. Eine Trafik, das ist ein Kiosk, ein Späti, ein Büdchen, wie es andernorts genannt wird.
Otto Trsnjek, ein kaltschnäuziger, erfahrender Händler und Sozialist, bringt Franz die Grundlagen für den Beruf des Trafikanten bei. Dazu zählen Höflichkeit, die Lektüre aller einschlägigen Zeitungen und damit Kenntnis des Weltgeschehens sowie Kenntnisse über Rauchwaren aller Art.
Der Start ins Trafikanten-Leben ist aufregend und die Ansichtskarten an Franzens Mutter, die prompt eine Antwort erfahren, künden von diesem neuen Lebensgefühl und auch von den Geheimnissen, die Franz vor seiner Mama hat. Sigmund Freud ist einer der Stammkunden des kleinen Lädchens, vor dem sich Otto mit dem Metzger streitet. Denn der ist ein Nazi und sieht es gar nicht gern, dass in der Trafik Juden ein und aus gehen.
Zwischen Freud und Franz entsteht eine außergewöhnliche Freundschaft, bei der Franz von seiner ersten Liebe zur Variététänzerin Anezka erzählen kann. Unschuldig und zart beginnt sie mit einem Ausflug in den Prater, setzt sich heftiger in einem Etablissement fort, in dem Witze über Hitler erzählt werden und in dessen Hinterhof Franz von Anezkas Aufpasser angegangen wird und gipfeln in seiner ersten sexuellen Erfahrung mit jener Frau, als Franz sich auf die Suche nach ihr macht und von ihr verführt wird.
Doch das Glücksblatt wendet sich mit der Machtergreifung der Nazis. Ottos Trafik wird beschmiert und verwüstet. Anezka trifft unschöne Entscheidungen und schließlich passiert weitaus Schlimmeres mit Otto, mit Anezka, mit Franz und der Trafik. Denn der Metzger ist ein Schweinehund, der fürwahr mehr als nur eine Ohrfeige verdient, die ihm der Lehrjunge schließlich verpasst. Franz muss all seinen Mut aufbringen, manches Abenteuer bestreiten und zu seinen Überzeugungen stehen. Am Ende gibt es viele Opfer.
Mirjam Kristensen, „Ein reiches Leben“: Was ist Lüge, was ist Wahrheit? Wer trägt Verantwortung?
Ein Verkehrsunfall geschieht, der oder die VerursacherIn flüchtet. Die Protagonistin behauptet, Zeugin gewesen und zur Hilfe geeilt zu sein. Sie nimmt etwas vom Unfallort mit und verbirgt es. Doch ist alles wahr, was sie ihrem Nachbarn gesteht und ist alles wirklich so gewesen, wie sie es erzählt?
Wir lesen zwei Versionen des Geschehens und beide sind sie wahr. Schuld ist das Thema dieses Buches, der Unfall eine Allegorie. Die Grenzen verschwimmen und machen den Reiz der Geschichte aus.
Lesen lohnt.
Maylis de Kerangal – Das Portrait eines Kochs
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von Maria Jürgensen (Marie van Bilk) ...
Das Original gibt’s auf Französisch. Ich habe die englische Übersetzung gelesen.
Die Autorin Maylis de Kerangal beschreibt da die Obsession eines Kochs Essen zuzubereiten. Sie tut das, indem sie einerseits sensibel und gekonnt Sensorik und Technik beschreibt, Genuss und Publikum nicht aussparend, andererseits aber auch nicht die harten Umstände, die die Profession begleiten.
Ein tolles, kleines Büchlein, das sich in einem Stündchen verschlingen lässt. Empfehlung!
„Daheim“ erzählt die Geschichte einer Entwurzelten, einer Nomadin.
Sie lebt getrennt vom Ehemann, dem sie kleine Briefe aus dem Alltag schreibt und der Tochter, die der Mutter wechselnde Koordinaten ihrer jeweiligen Aufenthaltsorte sendet. „Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf der Landkarte nicht vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt“. Sie sei ein Trabant, der, wie alle, um die eigene Sonne treibe. Ihre sei, so sagt sie, ihr Mann und ihr Kind. Beinahe hätte sie einen Kreuzfahrtschiff-Zauberer und dessen Frau, der sie an einer Tankstelle anspricht, als zersägte Jungfrau nach Singapur begleitet. Von der einsamen Wohnung und dem Blick auf Straße und Tanke der Jugend reicht ihr Blick bis in die Jetztzeit, ihr Dasein als Frau mittleren Alters, die im Norden zaghaft Kontakte knüpft, Provisorien zu Institutionen werden lässt und eine Liebesaffäre mit einem eigenbrötlerischen Schweinefarmer und Bruder ihrer Freundin beginnt.
Transitorisches bleibt, Vorläufiges, Belangloses, die Suche nach Heimat, das Spiel mit Nähe und Distanz, immer gibt es eine Überraschung. Der Tod trifft die zwanzigjährige Übergangsfreundin des Bruders, dem die Protagonistin in der halbherzig geführten Gaststätte hilft. Die Tochter bleibt eine Ahnung, der Ehemann Sammler der Dinge, der Historie, bis er ihr einen Weltempfänger schickt, begleitet von den Worten: „Ich versuche das Archiv aufzulösen, weil die Welt sich auflöst. Es gibt Sachen, die du gebrauchen kannst, die wir gebrauchen werden, damit wir uns nicht aus den Augen verlieren.“
Am Schluss steht sie wieder da, die Freiheit, dahin zu gehen, wohin einen das Herz trägt.
Mir hat die Geschichte viel Freude gemacht: Spannende Charaktere, Dauermelancholie, eine schön erzählte, verschachtelte Geschichte, karge, gekonnt genutzte und poetische Sprache.
In den 80ern kam mir Doris Dörrie mit ihrem Film „Männer“ unter. Eine Komödie ohne sonderlichen Tiefgang, aber amüsant, für damalige Verhältnisse rasant und – vor allem – von einer Regisseurin gemacht. Ich habe einige ihrer Bücher mit viel Vergnügen gelesen, darunter „Leben, Schreiben, Atmen“ – ein Buch über das Schreiben.
In „Die Heldin reist“ beschreibt sie, wie es ist, als Frau auf Reisen zu gehen. Sie erzählt zunächst vom Muster der „Heldenreise“, das vielen Romanen und Filmen zugrunde liegt.
Der Held – es ist meist ein Mann – verlässt die heimischen Gefilde, gerät in Verstrickungen, Kriege, Kämpfe, Abenteuer, erlegt den „Drachen“, rettet die Maid und kehrt siegreich nach Hause zurück. Dörrie fragt sich, was passiert denn, wenn eine Frau sich auf den Weg macht? Wie unterscheidet sich ihr Reisen von eben diesem Konstrukt?
Manch eine Geschichte, die sie erzählt, berührt mich sehr. In einem Interview mit den NDR hat Doris Dörrie gesagt: „Ich glaube, dass Geschichten von Frauen nicht so singulär funktionieren, dass Frauen doch eher vernetzter im Kollektiv agieren, dass sie auch diese Rettungsfantasie der Welt nicht mitschleppen, sondern dass es um andere Dinge geht. Dieses auf das Podest gestellt zu werden, mit Lorbeer umkränzt zu werden, als alleiniger großer Held nach Hause zurückzukehren – das ist, glaube ich, eher eine männliche Art und Weise, sich in der Welt fortzubewegen. Das sind die Geschichten, die wir so über Männer erzählen. Ich habe das Gefühl, wir Frauen können anders erzählen und tun es auch.“
Und so erzählt Dörrie anders. Von ihrer Liebe zu Japan und den Grenzen, die dieses Land seinen BewohnerInnen setzt. Sie berichtet von ihrer Begegnung mit einer Japanerin beim Baumkuchen-Essen, die lange in Deutschland lebte und ihre ganz eigene Erfahrungen mit Frausein gemacht hat. Als dicke Japanerin zuhause noch mehr geächtet, als im ebenso figurfeindlichen Ausland, unglücklich verliebt in einen promiskuitiven Mann, ausgenutzt durch ihn und seine Familie kämpft sie ihren ganz persönlichen Kampf und findet gegen alle Widrigkeiten ihr ganz persönliches, kleines Glück. Dörrie berichtet von ihren Aufenthalten in Kalifornien, ersten Lieben, vom Verlust ihres an Krebs erkrankten Mannes, von Gewalt in einer ihrer Partnerschaften. Vom Schweigen. Vom Reisen ins Atlasgebirge mit einer Freundin, von Marrakesch, San Francisco und Marrakesch. Sie berichtet über Begegnungen mit Fremdheit und Nähe, vom Alleinsein in unbekannten Straßen und von der Gemeinschaft unter Frauen.
Ein sehr persönliches, herrlich geschriebenes Buch, das ich mir ans Herz drücke und hüten werde. Und wieder ziehe ich vor dieser Frau meinen Hut.
Gleichermaßen Hausfrau, Pflegerin, Mutter, nie genügende Ehefrau und aufopfernde Sekretärin – dienend bis zum Schluss, das ist das Bild, das LeserInnen von der Protagonistin in „Lügen über meine Mutter“ erhalten.
Ist es Überzeichnung oder eine Realität, wie sie vielfach bis heute vorherrscht? Nun handelt es sich hier um die autofiktionale Aufarbeitung von Dröschers Elternhaus. So manch einem in dieser Familie sollte man im Nachhinein kräftig in den Hintern treten.
Erzählt wird sowohl aus der Sicht eines sechsjährigen Kindes, als auch aus der Perspektive der erwachsenen Tochter dieser Mutter. Dröscher entblättert das nicht untypische Leben einer Frau in den 70er, 80er und 90er-Jahre des just zurückliegenden Jahrhunderts.
Zwei Kinder, die Pflege für die demente Oma, die Sorge um Benachteiligte und das Engagement in der Nachbarschaft, als drittes Quasikind der Vater, der sich selbst naturgemäß völlig anders sieht, all das schultert die Dame des Hauses. Sie duldet die Herabsetzungen und Demütigungen durch ihren Mann. Sie ist auch dann noch Handelnde, als ihr Körper sich vor Schmerzen krümmt. Sie macht, trägt die Last, entscheidet sich mehrfach heimlich gegen ein Kind mit ihrem Mann und treibt ab. Der ist schlicht ein Riesenarschloch. Für seine Fehler verantwortlich zeichnet – zumindest seiner Ansicht nach – die Frau, insbesondere ihr „wenig präsentables Äußeres“ und die fehlende Disziplin, die sie bei ihrem Körper und auch sonst an den Tag legt. Seine Wünsche haben Vorrang, ihre sind zu teuer, zu unsinnig, zu unbedeutend, zu dumm und – das ist schwer erträglich – sie wehrt sich kaum. Während er im Cabrio zum Tennisplatz düst und einen auf dicke Hose macht, bringt sie die Oma zu Bett. Statt sich zu verweigern, wenn dieser Idiot mal wieder nach einer Diät verlangt, statt diesen Clown endlich zu verlassen, als sie finanziell unabhängig ist, hält sie durch, sucht die Schuld bei sich, investiert das Geld ins neue, repräsentative Haus, in seine Autoträume und in ihren scheiternden Chef, Menschen, die es angeblich „brauchen“, bis nichts mehr vom Erbe übrig ist. Sie isst heimlich, versagt sich offenen Genuss. Der Kinder wegen oder was auch sonst der Grund dafür sein mag – sie bleibt und packt lediglich einen kleinen Koffer, als sie endlich, nach Volljährigkeit ihres letzten Kindes und Tod der Oma, Ehemann und Haus verlässt. Die Tochter übernimmt die Sichtweise ihres Vaters, bis in die heutige Zeit hinein und schämt sich für den dicken Hintern ihrer Frau Mama.
Der Scheindialog, den sie mit ihr führt, ist lasch, wenig engagiert, wenig selbstkritisch. Weight Watchers erscheint „fast wie eine Therapiesitzung“ heißt es an einer Stelle. Diese stets noch geltende gesellschaftliche Ablehnung dicker Menschen ist etwas, das mich besonders betroffen gemacht hat. Wer Zeit seines Lebens nicht „normalgewichtig“ ist und einen ständigen Kampf gegen seine Körperformen ficht, weiß, wie verletzend es ist, wenn Männer einen nicht mehr oder erst gar nicht haben wollen, weil sie eine „schlanke Partnerin“ bevorzugen. Wenn Frauen einen für die Abnahme beglückwünschen und in Frauenrunden über Pfunde der Nachbarin lästern. Da mag die Nadel auf der Waage auch nur minimal neben den sogenannten Idealmaßen liegen, dieser Anspruch wirkt sich auf das gesamte Wesen aus. Es entwickelt sich ein ständig präsentes Gefühl des Nichtgenügens. Eine Akzeptanz der eigenen „anderen“ Körperformen – die im Übrigen bei den meisten Männern sehr viel eher toleriert werden als bei Frauen – genussvolles Umgehen mit Essen ist schier unmöglich. Während Kinder und Mann sich die Lasagne reinschaufeln, soll Frau in Äpfel und Knäckebrot beißen, auch in dieser Familie.
Und auch hier könnte jene Frau ihren Mann überragen. Sie ist klug, ehrgeizig, über die Maßen engagiert und managt ein ganzen Heer. Und doch buckelt sie, unterwirft sich einer patriarchalen gesellschaftlichen Norm, nach der Frau „schön“ im Sinne eines – sich im übrigen wandelnden – sexualisierten Ideals zu sein haben, selbstverständlich für Kinder, die Pflege der Eltern, den Haushalt und das Wohlergehen ihres Mannes und Chefs verantwortlich sind. Natürlich stoßen sogar Ärzte ins gleiche Horn, wenn es um die schlanke Linie geht und all die schlanken Gesellinnen und Gesellen fühlen sich bemüßigt, ihre Sorge über die Gesundheit der Dicken kundzutun. Selten tun sie das, wenn der Herr Papa mal wieder einen Whiskey kippt oder die zwanzigste Zigarette raucht.
Dass dieser Körper, dieses Leben dieser Frau gehört und sie selbst entscheidet, wie und was sie damit macht, kommt niemandem in den Sinn. Diese Frau ist ein autonomes Wesen und keine Service-Agentur. Dass die schlanke, sportliche Tochter ihren Vater an einer Stelle in Schutz nimmt und nicht für die Mutter Partei ergreift, ist unverzeihlich. Man spürt deutlich, dass hier jemand nicht ansatzweise begreift, dass es okay ist, einen anderen Körper zu haben. Man spürt eine Geringschätzung, die sich über den Vater an die Tochter übertragen hat. Das ist tragisch und ungerecht. Den Körper von anderen der Lächerlichkeit preiszugeben, ist übergriffig. Eine Frau dermaßen herabzusetzen und ihre Leistung in keiner Weise zu würdigen und sie dermaßen auszubeuten, ist zum Kotzen.
Ich hätte oft schreien können vor Wut und Entsetzen.
„Sontag“ von Ben Moser: 700 pralle Seiten mit Information zu Susan Sontag, einer Frau, über die man den Stab brechen kann. Denn leicht hat sie sich ihr Leben nicht gemacht, war im Umgang sowohl herzlich, als auch unerträglich brutal, glänzte durch Großzügigkeit und Einsatz genauso wie durch Skrupellosigkeit und Überheblichkeit. Schillernd bemitleidenswert.
Benjamin Moser fasst zum Ende des Buches ihre Verdienste zusammen. Sinngemäß: Sontags Leben und Werk zeigen, wie instabil selbst so große Worte wie Sozialismus, Kunst und Demokratie sein können. Sie zeigte wie empfindlich das amerikanische Selbstverständnis war. Sie war bei der Revolution in Kuba zugegen und als die Berliner Mauer fiel. Sie war in Hanoi, als Bomben fielen, in Israel im Yom Kippur Krieg. Sie war in der Hochzeit New Yorker Kultur in eben diesen Kreisen unterwegs, kannte die queere Szene ihrer Zeit, wenn sie sich mit einem Outing mindest so schwer tat, wie mit einem Bekenntnis zum Feminismus. Lediglich allerdings deswegen, weil sie um das Labelling in einer männlich konnotierten und straight orientierten Welt wusste. Sie war Zeugin großer Erfolge in Wissenschaft und Medizin, von den ersten Schritten ausgehend von Freuds Theorien bis hin zu einem neuen Verständnis der Gefährlichkeit von Drogen und Alkohol und revolutionären Ansätzen in der Psychologie. In einer geteilten Welt präsentierte sie ein gespaltenes, zutiefst mit sich ringendes, zweifelndes Selbst. Sie schuf große Texte und miserable. Sie versuchte, ihre empathische Unfähigkeit zu überwinden, was ihr zeitlebens nicht gelang und Großes zu leisten. Sie unterstützte die Bosnier in der Zeit des Krieges vor Ort und verhalf verfolgten Künstlern und Schriftstellern zu einem neuen Leben. Sie stellte sich gegen Interpretation und beschrieb die Metaphern unserer Zeit, um schließlich selbst zu einer zu werden.
Er kann’s, gar keine Frage. Und er kann es gut: Schreiben nämlich. Bisher habe ich von Arno Geiger nur „Der alte König in seinem Exil“ gelesen und war sehr berührt und mitgenommen von der Schilderung der Demenz seines Vaters. Schon da beweist Arno Geiger Empathie und das Auge fürs Detail. All das wird verpackt in einer schönen, eigenen Sprache, mit Sätzen, die ich mir herauspicken, für mein eigenes Leben nutzen kann, die mich begreifen lassen. Er ist unglaublich nahe dran an uns Menschen und erzählt in seinem Buch „Das glückliche Geheimnis“, warum ihm das gelingt.
Hinter diesem „glücklichen Geheimnis“ verbergen sich Touren durch die Altpapier-Container seiner Stadt Wien. Er unternimmt sie über Jahrzehnte, ganze 25 Jahre lang, mit gelegentlichen Pausen und mit sich wandelnder Intention. Er fischt Bücher heraus, darunter welche, die er teuer verkaufen kann, Briefpapier zum Schreiben, Briefmarkensammlungen, Briefkonvolute und Tagebücher fremder Menschen, wertvolle Kunstdrucke und Postkarten. In Jahren, in denen er von wenig Geld lebt, unterstützen die Funde das Portemonnaie und seinen Traum, ein Schriftsteller zu werden. Letzteres, sowohl in monetärer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Denn die Briefe und Tagebücher liest er, erfährt Ab- und Hintergründiges, von Schicksalen, Beziehungen und Gaunerstückchen. Ganz nebenbei sind seine, schließlich auf die Morgenstunden verlegten Touren, dann, wenn die Straßen noch leer sind, sein Fitnessprogramm. Er unternimmt sie mit dem Rad und muss sich in die Container hineinhangeln, entwickelt Techniken für seine Suche.
Manch ein Ordnungshüter begegnet ihm dabei, manch Passant macht eine Bemerkung, doch stören tut es niemanden, verboten ist das nicht, was er tut. Dennoch ist ihm das Sammeln gelegentlich peinlich. Es bleibt ein Geheimnis, dass er nur mit seinen diversen Partnerinnen teilt. Nur selten äußert einer mal einen Verdacht hinsichtlich seines Tuns.
Arno Geiger berichtet daneben viel über sich selbst. Wir erfahren von gescheiterten Beziehungen, von dem Weg eines Paares aus Krisen hin zu einer unnachahmlichen Vertrautheit, die auf eben jenen fußt. Wir erfahren von einer Persönlichkeit, die sich an Öffentlichkeit aufreibt, an einem Traum, dessen Verwirklichung er nicht gänzlich selbst in der Hand hat und der sich stellenweise in eben jener Wirklichkeit als schwierig erweist. Wir erfahren außerdem ein bisschen von der Entwicklung eines jungen Mannes zu einem im mittleren Alter, seinen Erfahrungen, Ängsten, Zweifeln und Stärken.
Es ist ein Buch über das Schreiben, über Erfolg und Misserfolg, über die Liebe, über das Kennenlernen von Menschen, das Erfassen dessen, was Menschsein ausmacht. Es ist eine Hommage an das Alltägliche, das Abgründige und Zufällige. Es ist ein Teil einer Biographie eines Autors und es ist ein Bild von uns selbst. Das „glückliche Geheimnis“ ist gelüftet und ich bin froh, eine der Mitwissenden zu sein! Dankeschön!