Angelacht – Liebesdramen

Der Angler

Jemand liebt

© Foto: Maria Jürgensen

© Foto: Maria Jürgensen

Sie schienen alle ohne einen Funken Verstand und Gefühl zu sein. Die Schar der Gäste im Saal des Grand Hotels verlor sich in heftiger Betriebsamkeit und schwang von der einen Seite des Raumes zur anderen. Voller Ernst parlierten sie bei Rotwein und Crémant über Belanglosigkeiten des eiligen Vormittags. Hier und da zückte ein Silbergrauer, Glattrasierter oder Bärtiger ein Handy, liebkoste mit dem Daumen den Bildschirm, der seinen Widerschein vereinnahmend auf dem Gesicht seines Betrachters hinterließ und tippte behände eine Nachricht. Es wurde stetig lauter und geschäftiger. Das gleichförmige Summen der Stimmen bekam Gesellschaft von rhythmisch unterbrechenden Pings der Mobiltelefone, die eine Antwort aus dem Off signalisierten. Sie schmiegten sich eng aneinander, als sei man einander vertraut und zugewandt. Ihre Stimmen zerschnitten die körperlich skizzierte Nähe mit Worten. Laut, betont und das eigene Bild voreinander zeichnend markierten sie ihren Bereich. Sie war die einzige Frau hier. Sie schwieg, als sei das Schweigen Ausdruck ihrer anderen Haltung und die einzige Möglichkeit, ihren so notwendigen Abstand zu wahren. Weiterlesen

 

Grün ist die Hoffnung

Rätselraten

Grün-ist-die-HoffnungSie aß Käsekuchen. Tarta de Queso nannte man das hier. Ihr blondiertes Haar roch nach billigem Haarspray und Heinz brachte zum dritten Mal einen hellgrünen Likör in einem abgenutzten Glas mit langem Stiel. Heute, wie fast jeden Tag, toste ein kräftiger Wind über die Insel und um die Ecken von Puerto del Carmens Häuser, deren verblichener Charme die quirligen Nächte der sechziger Jahre nur noch ahnen ließ. Einige wenige Engländer mit großflächigen Tattoos und in Begleitung behandtaschter Damen, deren auffällig lackierte Fingernägel im Schein der Funzeln, die sich Straßenlaternen nannten, leuchteten, verließen die Discotheken des Ortes. In der Tabledance Bar direkt neben Schulzens Alpenhain arbeitete nur noch eine Dame mit passablem Busen hinter dem Tresen, während Bildschirme, auf denen eindeutige Tanzdarbietungen zu sehen waren, in allen vier Ecken des Etablissements auf die spärlich besetzen Tische hinunter flimmerten. Weiterlesen

 

Haben Lügen lange Beine?

Zwanzig Vaterunser und zehn GegrüßetseistduMaria

Keine log so schön wie Rosemarie Riemenschneider. Selbst ihr Beichtvater war von ihren samstäglichen Auftritten und der dann folgenden Inbrunst Ihrer Geständnisse beeindruckt. Nach seinem „Gelobt sei Jesus Christus“ antwortete sie voller Leidenschaft mit „In Ewigkeit. Amen“ und betonte das Wort Ewigkeit nachdrücklich. Nach der letzten Beichte brauchte er nicht zu fragen. Sie kam regelmäßig. Sie genoss es. Und immer begann Rosemarie ihre Sündenlitanei mit „Mein Vater, ich habe gelogen“. Dann lächelte sie und begann zu erzählen. Von ihren sieben Kindern. Von ihrer Unfähigkeit eine gute Mutter zu sein oder davon, dass sie zurückgeschlagen habe, als ihr Mann sie wieder einmal züchtigte. Pater Bernhardt wusste, Rosemarie hatte keine Kinder. Sie war unverheiratet und lebte in einer sechzig Quadratmeter großen Mietswohnung am Stadtrand. Wenn er ihr die zehn Gebote erläuterte oder sie strategisch klug fragte, warum sie sich so bestrafe, schaute sie nur mit großen Augen durch das vergitterte Fensterchen, das sie trennte und schwieg. Es war, als hörte sie seine Worte nicht. Stattdessen fuhr sie fort, sich anzuklagen und um Erlass ihrer Schuld zu flehen. Er gab ihr mit schmelzendem Widerstand die Absolution und verdonnerte sie zu zwanzig Vaterunser und zehn GegrüßetseistduMaria, die sie anschließend, mit Rosenkranz bewaffnet und kniend in der Kirchenbank ableistete. Ihr Kopftuch rutschte ihr dabei jedes Mal wie die Kapuze einer Mönchskutte in den Nacken und ließ ihre schwarze Haarpracht sehen. Danach verließ sie beschwingt, sanft und unschuldig lächelnd die Kirche. Pater Bernhardt dagegen saß geknickt im Beichtstuhl und musste sich eingestehen, dass er sich auf die Samstage freute, an denen sie kam und ihre abstrusen Geschichten preisgab. Weiterlesen

 

Jons Glück

Vom anders sein

Jons-GlückJon machte nichts richtig, das lag in seiner Natur. Als seine Mutter ihn gebar, verweigerte er die ersten Laute, die darauf schließen ließen, dass er am Leben war und jagte ihr damit einen gehörigen Schrecken ein. Er bewegte sich, sein Herz klopfte und er blinzelte halbblind in die Welt hinein, doch er schrie nicht. Als er es zwangsläufig doch tat, hatte man ihm äußerst beherzt das Hinterteil versohlt und ein Fieberthermometer in dasselbe versenkt. „Hättest Du mal gleich geheult, mein Lieber“, vernahm die entnervte Mutter die Stimme der Hebamme,“ das war ein Fehler, die Welt nicht ordentlich zu begrüßen.“ Und es sollte nicht sein letzter bleiben. Jon wuchs im Schatten seines älteren Bruders auf, der äußerst begabt war und vermeintlich ein Mustersohn erster Güte. Wenn er im jugendlichen Eifer den Pfad der Tugend verließ, dann unauffällig und klug. Jon versuchte es ihm gleichzutun, vor allem im Beschreiten von Abwegen, von dem ihm der Bruder listig zu berichten wusste. Doch war Jon, was Unauffälligkeit und Klugheit anging, wenig erfolgreich. Weiterlesen

 

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